Konstruktiver Journalismus

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Wortherkunft: Der Begriff des konstruktiven Journalismus setzt sich zusammen aus dem lat. Verb construere = erbauen bzw. lat. constructio = Zusammenschichtung sowie dem frz. Adjektiv journal = jeden einzelnen Tag betreffend (Dudenredaktion 2001: 373, 438).

In westlichen Gesellschaften ist seit Beginn der 2010er Jahre eine Strömung im Journalismus sichtbar geworden, die sich der Berichterstattung über positive Entwicklungen, ermutigende Beispiele und gelingende Problemlösungen verschrieben hat. Die Strömung wurde zunächst mit dem aus den USA importierten Begriff „Solution-oriented journalism“ bezeichnet (Benesch 1998; Krüger/Gassner 2014), inzwischen hat sich in Europa die Bezeichnung „Konstruktiver Journalismus“ durchgesetzt.

Definition:
Konstruktiver Journalismus kann als ein „alternatives Berichterstattungsmuster“ angesehen werden, das den klassischen „objektiven Journalismus“ ergänzt (Meier 2018: 7f.). Er steht dabei in der Tradition des ,Civic Journalism‘ bzw. ,Public Journalism‘, der Lösungen auf lokaler Ebene recherchieren bzw. durch die Organisation entsprechender Foren und demokratischer Prozesse selbst anstoßen will (vgl. Rosen 1999). Konstruktiver Journalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er nicht ereignisfixiert ist, sondern langfristige Prozesse in den Blick nimmt, wobei soziale Probleme nicht nur beschrieben, sondern auch Debatten über mögliche Lösungen angeschoben werden sollen – wobei es nicht Aufgabe der Journalisten ist, sich selbst Lösungen auszudenken. Konstruktiver Journalismus soll vielmehr unabhängig und kritisch recherchieren, welche Menschen und Organisationen an Auswegen eines Problems arbeiten, welche Modelle gerade erdacht werden und welche schon praktisch erprobt sind (vgl. Gleich 2016: 3).

Charakteristisch für seine Akteure ist ein Bewusstsein dafür, dass Medieninhalte bestimmte Effekte auf Rezipienten haben können und dass ein „negativity bias“ (vgl. Beiler/Krüger 2018) im Journalismus ein zu negatives Weltbild verursachen und demokratische Partizipation behindern kann (siehe Abschnitt „Forschungsstand“).

Geschichte:
Das erste Medium speziell für Konstruktiven Journalismus war der Pressedienst Good News Bulletin, den der Publizist und Zukunftsforscher Robert Jungk (1913-1994) in New York im Jahr 1948 herausgab. Es handelte sich um ein „einmal wöchentlich an Redaktionen und Universitäten verschicktes Konzentrat von guten Nachrichten“ (Jungk 1993: 239) in einer Auflage von 150 Exemplaren. Inhaltlich be­leuchtete er vor allem die Arbeit der verschiedenen Unterorganisationen der gerade gegründeten UNO wie WHO, Unesco und Unicef. Jungk trat auch in der Folge mit Büchern als konstruktiver Journalist in Erscheinung und inspirierte Journalisten, die aus den ‚Neuen Sozialen Bewegungen‘ der 1970er und 1980er Jahre kamen (vgl. Krüger 2016).

Ende der 1990er Jahre wurde in den USA ein Anstieg von lösungsorientiertem Journalismus sichtbar, der sich in entsprechenden Rubriken von Tageszeitungen und in der Neugründung von Magazinen (Hope Magazine, Yes!) äußerte (vgl. Benesch 1998). In der Folge verbreitete sich die Idee auch in europäischen Ländern.

Gegenwärtiger Zustand:
Die Branchendiskussion in Deutschland und Europa prägte der dänische Fernsehjournalist Ulrik Haagerup mit einem einflussreichen Buch (vgl. Haagerup 2015) und der Gründung des Constructive Institute an der Universität Aarhus (2017). Andere Multiplikatoren der Idee sind die Organisation Reporters d’Espoirs (2003), das Pariser Startup Sparknews (2011), das jährlich einen weltweiten ,Impact Journalism Day‘ mit einer Vielzahl von Tageszeitungen veranstaltet, das Solutions Journalism Network in New York (2013) und das Constructive Journalism Network (2017). Inzwischen wird die Idee auch von Stiftungen unterstützt (in Deutschland etwa von der Schöpflin Stiftung, der Noah Foundation, der Stiftung FuturZwei und der taz panter Stiftung) und in Hochschulen und Journalistenakademien gelehrt.

Gegenwärtige Beispiele für journalistische Publikationen in der deutschen Medienlandschaft, die den Ansatz des konstruktiven Journalismus berücksichtigen, sind Online-Magazine wie Perspective Daily (seit 2016) oder klimareporter.de (seit 2007), Zeitschriften wie enorm (seit 2010), Oya (seit 2010), Kater Demos (seit 2015) und taz.FUTURZWEI (seit 2017) und Rubriken in klassischen Medien wie ,Perspektiven‘ auf NDR Info (seit 2016) oder die Dokureihe ,plan B‘ im ZDF (seit 2017).

Forschungsstand:
In der Praktiker-Literatur wird Konstruktiver Journalismus bislang vor allem zur Nachrichtenwerttheorie in Bezug gesetzt: Die Filter der Medien seien falsch, es überwiege der Negativismus, positive Entwicklungen würden die Nachrichtenschwelle zu selten überwinden (vgl. Haagerup 2015). Der Ansatz des Konstruktiven Journalismus fordert somit, journalistische Selektions- und Gewichtungsentscheidungen anders zu treffen und die Nachrichtenfaktoren neu zu kalibrieren: Der Fokus der Aufmerk­sam­keit soll in eine andere Richtung gehen als in die von Faktoren wie ‚Negativität‘, ‚Konflikt‘ oder ,Schaden‘ geleitete. Es geht um die Etablierung eines neuen Nachrichtenfaktors, den man ‚Problemlösung‘ oder ,Problemlösungsversuch‘ nennen kann und der mit bekannten Faktoren wie ‚Nutzen/Erfolg‘ oder „Fortschritt“ verwandt ist (vgl. Beiler/Krüger 2018). Dazu passt, dass einer der Pioniere der Nachrichtenwerttheorie, Johan Galtung, mit seinem Konzept des lösungsorientierten ,Friedensjournalismus‘ eine Art Vorläufer des Konstruktiven Journalismus konzeptualisiert hat (vgl. Galtung 1998).

Andere Autoren bringen das Konzept mit dem Framing-Ansatz (siehe u.a. Matthes 2014) in Verbindung: Frames sind Deutungsmuster, die aus vier Elementen bzw. Argumenten bestehen: Problemdefinition, Ursachenzuschreibung, Bewertung und Lösungszuschreibung. Konstruktiver Journalismus hebe das vierte Frame-Element hervor (vgl. McIntyre 2017). Einflussreich im akademischen Diskurs ist die Verbindung mit dem Konzept der Positiven Psychologie: Konstruktiver Journalismus wende deren Techniken auf die Nachrichtenproduktion an. Das Konzept der Positiven Psychologie basiert darauf, nicht die Defizite eines Patienten, sondern seine Ressourcen und Stärken zu betonen, um z.B. Depressionen aufgrund von ,erlernter Hilflosigkeit‘ zu heilen. Ähnliches tue der Konstruktive Journalismus (vgl. McIntyre/Gyldenstedt 2017).

Mehrere Wirkungsstudien haben sich daher mit der Frage befasst, ob Berichterstattung über Lösungsansätze positive Effekte bei Rezipienten zeigt. Hier wurden ähnliche Tendenzen festgestellt: Curry und Hammonds (2014) fanden in einem Experiment mit US-amerikanischen Erwachsenen heraus, dass sich Leser lösungsorientierter Artikel „inspirierter“ und „optimistischer“ fühlten. Diese Affinität ließ sich auch bei Meier (2018) beobachten, der die Wirkung von Nachrichten über die Verschmutzung der Meere durch Plastik sowie mithilfe einer Reportage über die Mitarbeiterin eines russischen Behindertenheims prüfte. Der Effekt, den die konstruktive Aufarbeitung negativer Ereignisse bei Rezipienten auslöst, konnte 2017 durch Kleemans et al. auch für acht- bis 13-jährige Studienteilnehmer nachgewiesen werden.

Dass der lösungsorientierte Ansatz jedoch nicht grundsätzlich zu Verbesserungen führt, stellten McIntyre und Sobel (2017) fest: In einem Experiment mit einem Artikel über Zwangsprostitution minderjähriger Mädchen kamen sie zu dem Ergebnis, dass die emotionale Wirkung auf die Leser zwar als positiv bezeichnet werden konnte; größere Empathie für die Betroffenen, eine verstärkte Handlungsmotivation sowie ein generell besseres Verständnis des Themas wurden allerdings nicht beobachtet.

Weitere Studien widmeten sich dem Rollenverständnis der Journalisten und deren Auffassung von Sozialverantwortung: So beleuchteten McIntyre et al. (2016) das Konzept des ,contextual reporting‘ – einer Berichterstattung, die über das Ereignis hinausgeht und zum Wohl der Gesellschaft beitragen will. McIntyre und Sobel (2017) zeigten zudem am Beispiel des afrikanischen Staates Ruanda, in dem 1994 ein Genozid stattgefunden hatte, dass der dortige Journalismus auch Techniken des konstruktiven Journalismus anwendet, um Frieden und Aussöhnung im Land zu fördern.

Literatur:

Beiler, Markus; Uwe Krüger: Mehr Mehrwert durch Konstruktiven Journalismus? Idee des Konzepts und Implikationen zur Steigerung des Public Values von Medien. In: Gonser, Nicole (Hrsg.): Der öffentliche (Mehr-)Wert von Medien. Public Value aus Publikumssicht. Wiesbaden [Springer VS] 2018, S. 167-191.

Benesch, Susan: The rise of solutions journalism. In: Columbia Journalism Review, o. Jg., Heft März/April, 1998, S. 36-39. http://archive.is/NgxW5

Curry, Alexander L.; Keith H. Hammonds: The Power of solutions journalism. In: Engaging News Project and Solutions Journalism Network. Austin [University of Texas] 2014. (Zugriff: 08.03.2018)

Dudenredaktion (Hrsg.): Duden, Band 7. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. 3. Auflage. Mannheim [Dudenverlag] 2001.

Galtung, Johan: Friedensjournalismus: Warum, was, wer, wo, wann? In: Kempf, Wilhelm; Irena Schmidt-Regener (Hrsg.), Krieg, Nationalismus, Rassismus und die Medien. Münster [LIT] 1998, S. 3-20.

Gleich, Michael: Lust auf Lösungen. Konstruktiver Journalismus (Journalisten Werkstatt). In: In: Medium Magazin, 5/2016. Salzburg [Edition Oberauer] 2016.

Haagerup, Ulrik: Constructive News. Warum „bad news“ die Medien zerstören und wie Journalisten mit einem völlig neuen Ansatz wieder Menschen berühren. Salzburg [Edition Oberauer] 2015.

Jungk, Robert: Trotzdem. Mein Leben für die Zukunft. München [Hanser] 1993.

Kleemans, Mariska; Rebecca N. H. de Leeuw; Janel Gerritsen; Moniek Buijzen: Children’s Responses to Negative News: The Effects of Constructive Reporting in Newspaper Stories for Children. In: Journal of Communication, 67(5), 2017, S. 781-802. https://doi.org/10.1111/jcom.12324

Krüger, Uwe: Solutions Journalism (Lösungsorientierter Journalismus). In: Deutscher Fachjournalisten-Verband (Hrsg.): Journalistische Genres. Konstanz [UVK] 2016, S. 95-114.

Krüger, Uwe; Nadine Gassner: Abschied von den Bad News. In: Message – Internationale Zeitschrift für Journalismus, 1, 2014, S. 20-25. http://www.message-online.com/wp-content/uploads/SoJ.pdf

Matthes, Jörg: Framing. Baden-Baden [Nomos] 2014.

McIntyre, Karen; Nicole Smith Dahmen; Jesse Abdenour: The contextualist function: US newspaper journalists value social responsibility. In: Journalism, 19(12), 2016, S. 1-19. DOI: https://doi.org/10.1177/1464884916683553

McIntyre, Karen: Solutions Journalism. The effects of including solution information in news stories about social problems. In: Journalism Practice, 13(1), 2017, S. 16-34. DOI: https://doi.org/10.1080/17512786.2017.1409647

McIntyre, Karen; Cathrine Gyldensted: Constructive journalism: An introduction and practical guide for applying positive psychology techniques to news production. In: Journal of Media Innovations, 4(2), 2017, S. 20-34.

Mclntyre, Karen; Meghan Sobel: Reconstructing Rwanda. How Rwandan reporters use constructive journalism to promote peace. In: Journalism Studies, 19(6), 2017, S. 1-22. DOI: https://doi.org/10.1080/1461670X.2017.1326834

Meier, Klaus: Wie wirkt Konstruktiver Journalismus? Ein neues Berichterstattungsmuster auf dem Prüfstand. In: Journalistik, 1(1), 2018, S. 4-25. http://journalistik.online/wp-content/uploads/2018/01/Meier-Konstruktiver-Journalismus_Journalistik_1-2018_de.pdf (Zugriff: 08.03.2018)

Rosen, Jay: The Action of the Idea. Public Journalism in Built Form. In: Glasser, Theodore L.  (Hrsg.): The Idea of Public Journalism. New York [The Guilford Press] 1999, S. 21-48.

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Uwe Krüger
*1978, Dr., ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. Für seine Bücher Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse (Herbert von Halem Verlag, Köln 2013) und Mainstream – Warum wir den Medien nicht mehr trauen (Verlag C.H.Beck, München 2016) erhielt er den Günter-Wallraff-Preis für Journalismuskritik der Initiative Nachrichtenaufklärung. Arbeitsschwerpunkte: Journalistische Unabhängigkeit, Recherche, Konstruktiver Journalismus.