Lügenpresse

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Definition:
‚Lügenpresse‘ ist ein Schlagwort, das Misstrauen gegenüber den etablierten Medien, häufig sogar eine fundamentale Ablehnung derselben zum Ausdruck bringt. Dem Wortsinn nach unterstellt es Journalisten absichtsvoll falsche Sachverhaltsaussagen bzw. die Verdrehung von Tatsachen. Im erweiterten Sinn meint es Kritik an der vorgenommenen Auswahl von Nachrichten und Meinungen und an den in der Berichterstattung dominierenden Deutungsmustern (Frames) und Narrativen. Ein wesentlicher Teil der Kritik bezieht sich also „nicht auf Wahrheit, sondern auf ein anderes zentrales Qualitätskriterium: Relevanz“ (Hagen 2015: 153) – d.h. auf die Frage, was berichtet und was nicht berichtet wird –, sowie auf
Qualitätskriterien wie Neutralität bzw. Unparteilichkeit, Ausgewogenheit, Kritik und Unabhängigkeit (Arnold 2009: 162-196).

Mit dem Schlagwort ,Lügenpresse‘ verbunden sind häufig verschwörungsideologische Vorstellungen darüber, dass die Medien mit der Politik zusammenarbeiten würden, um die Bevölkerungsmeinung in wichtigen Fragen zu manipulieren (Krüger/Seiffert-Brockmann 2017). Einen ähnlichen Bedeutungsgehalt haben die Schlagwörter ,gleichgeschaltete Medien‘ und ,Systempresse‘. Oft zielt auch der Begriff ,Mainstream-Medien‘ in diese Richtung. Der auf ,Lügenpresse‘ anspielende Begriff ,Lückenpresse‘ transportiert die Kritik in abgeschwächter und weniger aggressiver Form.

Geschichte:
Nach heutigem Kenntnisstand wurde der Begriff ,Lügenpresse‘ erstmals 1835 in der Wiener Zeitung verwendet, in der Übersetzung der Rede eines französischen Abgeordneten, der sich für eine Einschränkung der Pressefreiheit in Frankreich aussprach: „Nur durch Unterdrückung der Lügenpresse kann der wahren Presse aufgeholfen werden“ (Wiener Zeitung 1835: 2). Im Zuge der Märzrevolution 1848 wurde „(jüdische) Lügenpresse“ zu einem antisemitisch konnotierten Schlagwort konservativ-katholischer Kreise gegen die aufkommende liberale demokratische Presse (Heine 2015). Während und nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 und während des Ersten und Zweiten Weltkriegs bezog sich ,Lügenpresse‘ in der deutschen Kriegspropaganda auf die Zeitungen in Frankreich und in anderen verfeindeten Staaten (Bsp. Anton 1916). Selbst Intellektuelle wie Literaturnobelpreisträger Gerhard Hauptmann reproduzierten den Topos der „französischen Lügenpresse“ (Essig/Nickisch 2007: 95). In den 1920er Jahren richteten NSDAP-Größen wie Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg den Vorwurf der ‚Lügenpresse‘ wahlweise gegen bürgerlich-liberale und gegen kommunistische Zeitungen. Kommunisten und Sozialisten wiederum richteten den Vorwurf in den 1920er Jahren gegen die bürgerliche bzw. „kapitalistische“ Presse, in der DDR-Propaganda zielte er auf bundesdeutsche oder amerikanische Medien. Seit Anfang der 2000er Jahre verwendeten Rechtsextremisten und Neonazis das Schlagwort gegen die etablierten Medien in Deutschland.

Gegenwärtiger Zustand:
Weite Verbreitung und große öffentliche Resonanz erlangte das Schlagwort seit Herbst 2014, als es erstmals auf Pegida-Demonstrationen in Dresden und in anderen Städten skandiert wurde – hier häufig verbunden mit Gewaltandrohungen gegen und tätlichen Angriffen auf Journalisten (Hoffmann 2017). Vom rechtsextremen Rand ist der Begriff damit in die gesellschaftliche Mitte gerückt und wird vor allem in rechtspopulistischen, rechtskonservativen, fremden- und islamfeindlichen Kreisen benutzt (Elsässer/Dassen 2015, Gärtner 2015, Denk 2015, Ulfkotte 2015). Die sprachkritische Initiative Unwort des Jahres wählte ,Lügenpresse‘ zum Unwort des Jahres 2014, weil die pauschale Diffamierung fundierte Medienkritik verhindere und die Pressefreiheit gefährde (vgl. Unwort des Jahres 2014). Verteidigt wurde der Begriff jedoch von einigen linken Publizisten wie Arno Klönne (2015), Eckart Spoo (2015) und Walter van Rossum (Wernicke 2017), da er zur Kritik von Desinformation tauge.

Laut Bevölkerungsumfragen ist der Vorwurf einer ,Lügenpresse‘ weit verbreitet. In einer Allensbach-Umfrage für die FAZ vom Dezember 2015 gaben 39 Prozent der Befragten an, am Vorwurf der ,Lügenpresse‘ sei etwas dran (Köcher 2015). In einer Emnid-Umfrage für den Bayerischen Rundfunk vom März 2016 stimmten der Aussage „Ich glaube, dass in den Medien häufig absichtlich die Unwahrheit gesagt wird“ 27 Prozent der Befragten „völlig“ und weitere 28 Prozent „eher“ zu (Bayerischer Rundfunk 2016). Eine Umfrage der Universität Mainz vom Herbst 2016 ergab, dass die Aussage „Die Bevölkerung in Deutschland wird von den Medien systematisch belogen“ von 19 Prozent mit „trifft eher/voll und ganz zu“ und weiteren 36 Prozent mit „teils/teils“ eingeschätzt wurde; ähnlich hohe Zustimmungswerte erhielt die verschwörungstheoretische Aussage „Die Medien und die Politik arbeiten Hand in Hand, um die Bevölkerungsmeinung zu manipulieren“ (26 Prozent „trifft eher/voll und ganz zu“, weitere 31 Prozent „teils/teils“) (Schultz et al. 2017: 253). In gewissem Widerspruch dazu steht der Befund, dass Langzeitdaten keinen Verlust des Vertrauens in die Medien zeigen (Reinemann et al. 2017).

Die Ursachen der gegenwärtig recht hohen Zustimmung zum ,Lügenpresse‘-Topos dürften darin zu suchen sein, dass größere Teile der Bevölkerung in ihren grundlegenden Werten und politischen Einstellungen bzw. Präferenzen nicht mit dem Tenor des medialen Mainstreams übereinstimmen. Speziell in geo- und bündnispolitischen Fragen (v.a. in der Haltung zu den USA und Russland) sowie in Fragen von Einwanderung und Integration bestehen Meinungsklüfte zwischen Teilen der Bevölkerung und den Eliten aller gesellschaftlichen Sektoren, die als hauptsächliche Quellen für Journalisten häufig Themenwahl, Tonlage und Deutungsmuster der Berichterstattung mitbestimmen (Krüger 2017). Hinzu kommt, dass die Journalisten in Bildungsgrad, Parteineigung und Milieuzugehörigkeit kein repräsentatives Abbild der Bevölkerung darstellen, sondern tendenziell höher gebildet, progressiver und liberaler sind als der Bevölkerungsdurchschnitt (Krüger 2016: 71-84). Zusätzlich oder alternativ kann fundamentale Ablehnung von Berichterstattung mit Medienwirkungseffekten wie dem → ,Hostile Media Effect‘ und dem → ,Third Person Effect‘ erklärt werden (Neverla 2017: 29-30). Der ,Hostile Media Effect‘ bezeichnet die Neigung vieler Menschen, mediale Berichterstattung als unausgewogen und ihren eigenen politischen Einstellungen entgegengesetzt wahrzunehmen, während ,Third Person Effect‘ das Phänomen meint, dass Menschen die Wirkung von Massenmedien auf andere als höher einschätzen als auf sich selbst.

Literatur:

Anton, Reinhold: Der Lügenfeldzug unserer Feinde. Band 4: Die Lügenpresse. Leipzig [Zehrfeld] 1916.

Arnold, Klaus: Qualitätsjournalismus. Die Zeitung und ihr Publikum. Konstanz [UVK] 2009.

Bayerischer Rundfunk: BR stellt Studie vor: Medien in der Glaubwürdigkeitskrise? 02.05.2016. http://www.br.de/presse/inhalt/pressemitteilungen/glaubwuerdigkeitsstudie-br-b5-geburtstag-100.html

Denk, Peter: Lügenpresse. Gelnhausen/Roth [J-K-Fischer-Verlag] 2015.

Elsässer, Jürgen; Marc Dassen (Hrsg.): Schwarzbuch Lügenpresse. Wie uns Medien und Politiker für dumm verkaufen. Compact Edition, Ausgabe Nr. 2. Werder [Compact Magazin GmbH] 2015

Essig, Rolf-Bernhard; Reinhard M.G. Nickisch (Hrsg.): „Wer schweigt, wird schuldig!“ Offene Briefe von Martin Luther bis Ulrike Meinhof. Göttingen [Wallstein] 2007.

Gärtner, Markus: Lügenpresse. Wie uns die Massenmedien durch Fälschen, Verdrehen und Verschweigen manipulieren. Rottenburg am Neckar [Kopp] 2015.

Hagen, Lutz: Nachrichtenjournalismus in der Vertrauenskrise. „Lügenpresse“ wissenschaftlich betrachtet: Journalismus zwischen Ressourcenkrise und entfesseltem Publikum. In: Communicatio Socialis, 2, 2015, S. 152-163.

Heine, Matthias: „Lügenpresse“ versteht man jetzt auch im Ausland. In: Welt.de, 09.03.2015, https://www.welt.de/kultur/article138227327/Luegenpresse-versteht-man-jetzt-auch-im-Ausland.html

Hoffmann, Martin: Das Feindbild II – „Lügenpresse“ und Journalistische Selbstbehauptung. Studie des European Centre for Press and Media Freedom, Mai 2017. https://ecpmf.eu/files/feindbild_presse_web.pdf

Klönne, Arno: „Lügenpresse“ – ein böses Wort? In: Telepolis, 14.01.2015. https://www.heise.de/tp/features/Luegenpresse-ein-boeses-Wort-3369533.html

Köcher, Renate: Allensbach-Studie: Mehrheit fühlt sich über Flüchtlinge einseitig informiert. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.12.2015. http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/allensbach-umfrage-zu-medienberichterstattung-in-fluechtlingskrise-13967959.html. Die Dokumentation liegt hier als PDF-Datei vor.

Krüger, Uwe: Mainstream – Warum wir den Medien nicht mehr trauen. 2. Auflage. München [C.H.Beck] 2016.

Krüger, Uwe: Medien-Mainstream. Eine Streitrede wider Konformität im Journalismus und für eine kritische Journalistik. In: Lilienthal, Volker; Irene Neverla (Hrsg.): Lügenpresse. Anatomie eines politischen Kampfbegriffs. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 2017, S. 248-265.

Krüger, Uwe; Jens Seiffert-Brockmann: Lügenpresse: Eine Verschwörungstheorie? Hintergründe, Ursachen, Auswege. In: Haarkötter, Hektor; Jörg-Uwe Nieland (Hrsg.): Nachrichten und Aufklärung. Medien- und Journalismuskritik heute: 20 Jahre Initiative Nachrichtenaufklärung. Wiesbaden [Springer VS] 2017, S. 67-88.

Neverla, Irene: „Lügenpresse“ – Begriff ohne jede Vernunft? Eine alte Kampfvokabel in der digitalen Mediengesellschaft. In: Lilienthal, Volker; Irene Neverla (Hrsg.): Lügenpresse. Anatomie eines politischen Kampfbegriffs. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 2017, S. 18-41.

Reinemann, Carsten; Nayla Fawzi; Magdalena Obermaier: Die „Vertrauenskrise” der Medien – Fakt oder Fiktion? Zu Entwicklung, Stand und Ursachen des Medienvertrauens in Deutschland. In: Lilienthal, Volker; Irene Neverla (Hrsg.): Lügenpresse. Anatomie eines politischen Kampfbegriffs. Köln [Kiepenheuer & Witsch] 2017, S. 77-94.

Schultz, Tanjev; Nickolaus Jackob; Marc Ziegele; Oliver Quiring; Christian Schemer: Erosion des Vertrauens zwischen Medien und Publikum? Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage. In: Media Perspektiven, 5, 2017, S. 246-259. http://www.ard-werbung.de/fileadmin/user_upload/media-perspektiven/pdf/2017/0517_Schultz_Jackob_Ziegele_Quiring_Schemer.pdf (12.10.2017)

Spoo, Eckart: Spoos Presseschau. „Lügenpresse” – Ein wahres Wort. In: WeltnetzTV, 04.02.2015. https://weltnetz.tv/video/620-spoos-presseschau-luegenpresse-ein-wahres-wort

Ulfkotte, Udo: Gekaufte Journalisten. Vortrag auf dem Regentreff, Kongress für Grenzwissen. In: Nuoviso TV, 29.10.2015. https://nuoviso.tv/home/kongresse/gekaufte-journalisten-udo-ulfkotte/

Wernicke, Jens: Ja, lügen die Medien denn nun oder nicht? Interview mit Walter van Rossum. In: Wernicke, Jens: Lügen die Medien? Propaganda, Rudeljournalismus und der Kampf um die öffentliche Meinung. Das Medienkritik-Kompendium. Frankfurt/M. [Westend] 2017, S. 19-28. Auszug online: https://www.heise.de/tp/features/Ja-luegen-die-Medien-denn-nun-oder-nicht-3821723.html

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Uwe Krüger
*1978, Dr., ist seit 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig. Für seine Bücher Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse (Herbert von Halem Verlag, Köln 2013) und Mainstream – Warum wir den Medien nicht mehr trauen (Verlag C.H.Beck, München 2016) erhielt er den Günter-Wallraff-Preis für Journalismuskritik der Initiative Nachrichtenaufklärung. Arbeitsschwerpunkte: Journalistische Unabhängigkeit, Recherche, Konstruktiver Journalismus.