Theodor Herzl

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Theodor (ungarisch: Tivadar) Herzl wurde am 2. Mai 1860 in Budapest geboren. Sein Vater war ein wohlhabender Geschäftsmann und Direktor der Hungaria-Bank, seine Mutter stammte aus einem reichen assimilierten jüdischen Elternhaus. Die deutsche Sprache, das Interesse für deutsche Literatur und die Kultur der Mutter prägten Theodor Herzl. Nachdem er Privatunterricht erhalten hatte, kam er 1875 in Budapest an das Humanistische Evangelische Gymnasium. In dieser Zeit begann Herzl zu schreiben, seine Theater- oder Buchrezensionen wurden in der deutschsprachigen Zeitung Pester Lloyd veröffentlicht. Nachdem die 19-jährige Schwester Pauline an Typhus gestorben war, übersiedelte die Familie nach Wien. Dort studierte Herzl erfolgreich Rechtswissenschaft (Promotion 1884). Da er aber als Jude keine Beamtenkarriere einschlagen und auch nicht Richter werden konnte, wandte sich Herzl wieder dem Schreiben zu. Er verfasste zunächst Bühnenstücke, die aber nicht erfolgreich waren.

Die antisemitische Stimmung in Wien nahm zu, 1882 verließ Herzl wegen antisemitischer Tendenzen die nationale Burschenschaft Albia und reiste durch Europa. Seine Ehe mit Julie Naschauer, die aus einer sehr reichen Familie stammte, entwickelte sich für Herzl nicht sehr glücklich. 1889 fuhr er nach Frankreich und Spanien und schickte von dort Texte an unterschiedliche Zeitungsredaktionen. Als man ihn fragte, ob er als Korrespondent für die Neue Freie Presse nach Paris gehen wolle, sagte er zu.

„Tagesgeschichtsschreibung“ und Dreyfus-Affäre

Als „Tagesgeschichtsschreibung“ (Bein 1974: 122) beschrieb Theodor Herzl seine journalistische Tätigkeit in Paris – bis ein Spionagefall 1894 für viel Aufsehen sorgte: der Prozess gegen den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus, der beschuldigt wurde, „Verrat am Vaterland“ begangen zu haben, indem er Dokumente des französischen Generalstabs an einen deutschen Militär-Attaché verkauft hätte. Als akkreditierter Korrespondent beobachtete Herzl den Prozess gegen Dreyfus, der Ende 1894 zur lebenslänglichen Deportation verurteilt wurde und dem man alle militärischen Ehren aberkannte. Einer der Schlüsseltexte von Herzl ist die Schilderung der Degradation von Hauptmann Alfred Dreyfus:

„Man sah eine große Anzahl Offiziere, mehrere mit ihren Damen. Der Einlaß in den Hof der Ecole Militaire war nur Offizieren und wenigen Journalisten gestattet. Draußen harrte die Menge der Gaffer, die Hinrichtungen beizuwohnen pflegen. Es war viel Polizei aufgeboten worden. (…) Der militärische Gerichtsvollzieher begann, dem Verurteilten die Knöpfe und Schnüre, die schon vorher gelockert waren, von der Uniform herabzureißen. Dreyfus bewahrte eine ruhige Haltung. Nach wenigen Minuten war die Prozedur vollzogen“
(Herzl in Schoeps 1995: 26f.).

Herzl beendete seine Pariser-Korrespondententätigkeit (1891-95) mit einer Reportage über den Sitz des französischen Parlaments, dem „Palais Bourbon“, in der er mit den Schwächen des französischen Parlamentarismus abrechnete, und erhielt den von ihm gewünschten Posten als Feuilletonchef der Neuen Freien Presse in Wien.

Am Beispiel der Berichterstattung aus dem französischen Parlament lässt sich die Bedeutung Theodor Herzls für die Entwicklung des modernen Journalismus zeigen: Wie Ema Kaiser in ihrer Magisterarbeit herausarbeitet,

„hat Herzl auch die Merkmale des modernen Journalismus verinnerlicht und auch tatsächlich praktiziert, u.a. das der Professionalität in Fragen der Berichterstattung, was sich in seinem Verzicht auf persönliche Meinungsäußerungen bei politisch durchaus brisanten Angelegenheiten ausdrückt“ (Kaiser 2010: 103).

Kaiser führt aus, dass Herzl als Pionier eines liberalen und an den Fakten orientierten Journalismus charakterisiert werden kann, der weder politische noch erzieherische Absichten hatte (vgl. Kaiser 2010: 8). Herzls Berichte über den französischen Parlamentarismus wurden international – von Wien, Berlin über New York und Konstantinopel – gelesen und wahrgenommen:

„Und wenn man diese Beschreibungen von ‚inhaltslosen Nachmittagen, die der Zeitungsschreiber im engen Verschlag zwischen den zwei letzten Säulen des grandiosen Palastes erlebt’ heute liest, ist der Schrecken groß: über so viel Zeitlosigkeit, Schärfe der Beobachtung, Rasiermessersprache“ (Jochimsen 2004a: 92).

Theodor Herzl zeigte im Sinne eines der Aufklärung verpflichteten Journalismus auf, wie über Politik berichtet werden kann – dadurch, dass er für die Öffentlichkeit, für das Publikum seiner Zeit die Mechanismen der Macht und Politik offenlegte.

Zurück aus Paris verfolgte er die Entwicklungen in der Dreyfus-Affäre, die sich über fünf Jahre hinzog, weiter und publizierte Artikel dazu. Der Prozess und der Umgang mit Alfred Dreyfus hat ihn – formulierte Herzl selbst – zum Zionisten gemacht.

Zwischen 1887 und 1904 verfasste Theodor Herzl ca. 280 Feuilletons, „anfangs auch für die Wiener Allgemeine Zeitung, ab 1889 ausschließlich für die Neue Freie Presse“ (Patka 2004: 11f.). Er zählte damals zu den bestbezahlten Feuilletonisten in Wien. In seinen journalistischen Texten – das zeigt auch die ausgewählte Zusammenstellung von Marcus G. Patka (2004) – hat sich Theodor Herzl mit unterschiedlichsten Themen befasst, nur über Zionismus durfte er in den Zeitungen nicht berichten.

1897 wurde die jüdische Wochenzeitung Welt gegründet, Herzl erschien nicht im Impressum, da er bei der Neuen Freien Presse beschäftigt war. Sein Schwager Paul Naschauer wurde Herausgeber, und es entstanden immer wieder Spannungen zwischen den Herausgebern der Neuen Freien Presse und Herzl mit seinem Engagement für den Zionismus und den Judenstaat. Luc Jochimsen schreibt darüber:

„In einer dieser existenziellen Auseinandersetzungen mit der Geschäftsleitung, bei denen stets Gehen oder Bleiben verhandelt wurde, bot man ihm die Literatur-Redaktion an und das höchste Gehalt. Außerdem einigte man sich auf ,unbefangene Berichterstattung‘ für den Fall, daß ein praktisches Ergebnis der zionistischen Bewegung zustande käme“
(Jochimsen 2004b: 179).

Der Journalist als teilnehmender Beobachter

Theodor Herzl recherchierte akribisch, suchte die Orte des Geschehens auf und beobachtete sehr genau. Für die Reportage über „Die Brücke von Neuville“ (1893) begab er sich nach Neuville, um bei einer Wahlversammlung dabei sein zu können, die Menschen zu beschreiben und die Atmosphäre einzufangen. Dies ermöglichte auch „die literarischen Qualitäten dieser Reportage: ihr wunderbarer Erzählrhythmus, die gelungenen Tempo- und Perspektivenwechsel, die pointierte und spannende Sprache“ (Langenbucher 1992: 38). Von der Veranstaltung berichtete Herzl:

„Die Anwesenden – mit mir sind es zwölf – empfangen ihren Abgeordneten ohne Begeisterung. Sie sahen ihn wohl seit der letzten Wahl nicht. Zwei, drei rücken an ihrer Mütze, nur einer steht unwillkürlich auf. Der Abgeordnete bestellt sich ein Glas Kaffee und setzt sich“ (Herzl 1893, in Langenbucher 1992: 42).

Dieser Ausschnitt zeigt deutlich, wie Herzl arbeitete: Er beschrieb die Details der Szenerie, die durch den Einsatz von wiedergegebenen Dialogen einen sehr guten Eindruck von der Atmosphäre zwischen einem Abgeordneten und Bauern vermittelten: „die da oben und wir da unten“. Die „Bauern hegen dumpfes Mißtrauen gegen ihren Vertreter. Warum? Vielleicht nur, weil er etwas von ihnen verlangt; ihre Stimmen nämlich. Sie können niemanden leiden, der etwas verlangt“ (Herzl 1893, in Langenbucher 1992: 46).

Als Paris-Korrespondent war Herzl häufig im französischen Parlament, das er als eine „Schule des Journalisten“ bezeichnete, da er dort erlebte, wie die Parlamentarier agierten. Daraus erwuchs für Herzl eine große Skepsis gegenüber dem politischen System. Langenbucher schreibt dazu:

„Es regiere die Fadesse, weshalb sich die Journalisten auch zunehmend auf die Zwischenrufer konzentrieren und es im Erkennen und Zuordnen dieser Zwischenrufe zu einer bestimmten Meisterschaft gebracht hätten. Aber nicht nur beim Parlamentarismus, auch im politischen Journalismus sah er eine Krise. Für so manchen Redakteur sei die Parlamentsbericht-erstattung lediglich ein Sprungbrett, um selbst zum Abgeordneten oder später gar Minister zu werden“ (Langenbucher 1992: 339).

Herzls journalistisches Oeuvre umfasst ein großes Themenspektrum, das von der Sozial-, über Reise- bis zur Politikberichterstattung reichte. Marcus G. Patka nahm 2004 eine weitere Auswahl der Feuilletons von Herzl vor und wählte zwei Themenbereiche aus, die sonst in der Rezeption des journalistischen Werkes wenig beachtet worden sind: Herzls „Interesse für die Neuerungen der Technik und seine Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen“ (Patka 2004: 13).

Bei der Lektüre dieser Feuilletons findet sich auch eines über Schönheitsoperationen – mit dem Titel „Neue Nasen“:

„Die meisten Menschen halten es ja komischerweise für rühmlich oder wenigstens für klug, sich nach den Übrigen zu richten. Die Folge davon wird sein, dass wir Nasenmoden bekommen werden zu den Haar- und Barttrachten, die schon jetzt üblich sind und von Zeit zu Zeit wechseln. (…) Die Nasen fürstlicher Personen, beliebter Künstler und Schauspieler dürften viel nachgeahmt werden. Dann wird man sie satt kriegen“ (Herzl 1903, in Patka 2004: 56f.).

Hier werden Trends angesprochen, die auch heute Konjunktur haben: Konformität und Konsum.

Theodor Herzl führte drei Leben parallel, wie es Luc Jochimsen (2004b) in ihrem Buch über Herzl analysierte: Er arbeitete nach wie vor als Journalist für die Neue Freie Presse, als Schriftsteller und als Politiker unermüdlich im Einsatz für einen „Judenstaat“. Sein Herzleiden, dies zeigen auch seine Tagebuchaufzeichnungen, verschlechterte sich von Jahr zu Jahr. Mit 44 Jahren starb Theodor Herzl am 3. Juli 1904 in einem Sanatorium in Edlach am Semmering.

Literatur:

Bein, Alex: Theodor Herzl. Eine Biographie. Wien/Berlin/Frankfurt/M. [Ullstein] 1983 (Erste Veröffentlichung 1934)

Herzl, Theodor: Feuilletons. Erster Band. Berlin [Benjamin Harz] o.J.

Herzl, Theodor: Feuilletons. Zweiter Band. Berlin [J. Singer & Co.] o.J.

Jochimsen, Luc: Theodor Herzl 1860 – 1904. In: Jakobs, Hans-Jürgen; Wolfgang R. Langenbucher (Hrsg.): Das Gewissen ihrer Zeit. Fünfzig Vorbilder des Journalismus. Wien [Picus] 2004a, 91-95.

Jochimsen, Luc: Dieses Jahr in Jerusalem. Theodor Herzl. Traum und Wirklichkeit. Berlin [Aufbau] 2004b

Kaiser, Ema: Die Anfänge des modernen Journalismus um die Jahrhundertwende in Österreich am Beispiel von Theodor Herzl und seinem Werk „Das Palais Bourbon“. Magisterarbeit. Universität Wien 2010

Langenbucher, Wolfgang R. (Hrsg.): Sensationen des Alltags. Meisterwerke des österreichischen Journalismus. Wien [Ueberreuter] 1992

Patka, Marcus G. (Hrsg.): Theodor Herzl. Die treibende Kraft. Feuilletons. Wien [Picus] 2004

Schoeps, Julius H. (Hrsg.): Theodor Herzl 1860-1904. Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen. Wien [Brandstätter] 1995

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PD Mag. Dr., ist seit 2010 Senior Lecturer am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien. Zu ihren Schwerpunkten in der Forschung gehören Migration und Medien, Journalismusforschung sowie Interkulturelle Kommunikation. Zudem arbeitet sie als freie Autorin beim Österreichischen Rundfunk und ist Chefredakteurin der Fachzeitschrift Medien Journal. Kontakt: petra.herczeg (at) univie.ac.at