Generalanzeiger sind ein wichtiger Prototyp der sogenannten Massenpresse, der sich in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausbildete (Dovifat 1928, 1940; Koszyk 1966: 267-275; Stöber 2000: 231-234; Wilke 2000: 266-269) und dort einen „typologischen Strukturwandel der Presse“ (Wilke 2000: 267) einleitete. Als einer der ersten Generalanzeiger gilt der Generalanzeiger der Stadt Köln, der erstmals am 29. September 1875 erschien (Wilke 2000: 268). Ihren eigentlichen Boom erlebten die Generalanzeiger in den Jahrzehnten zwischen 1880 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914. Entstehungs- und Entwicklungshintergrund war die mehrfache Entfesselung der politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und technischen Rahmenbedingungen der Zeitungsproduktion (Wilke 2000: 155). Ein entstehender Anzeigen- und Reklamemarkt und Innovationen in der Drucktechnik und Papierproduktion erlaubten ganz neue Finanzierungs- und Kostenmodelle für Zeitungen, um Auflagen und Kapazitäten zu steigern. Parallel eröffnete das Reichspressegesetz von 1874 neue rechtliche Spielräume. Wilhelm Girardet (1838-1918), August Huck (1849-1911) und August Scherl (1849-1921) fungierten als wichtige Verlegerpioniere der Generalanzeiger und gründeten auf der Grundlage dieses Pressetypus die ersten deutschen Zeitungskonzerne.
Wie vorher schon seit den 1830er Jahren in England, Frankreich oder den USA bei den Zeitungen vom Typ der ‚Grande Presse‘ und der ‚Penny Press‘ setzte sich mit dem Generalanzeiger auch in Deutschland ein auflagenstarker Zeitungstypus durch, der als einen programmatischen Grundsatz verfolgte, quer durch die Gesellschaft ganz neue Leserschichten zu erschließen. So trugen die Generalanzeiger wesentlich dazu bei, dass sich die Gesellschaft zu einer modernen „Kommunikationsgesellschaft“ (Nipperdey 1998: 797) wandelte, in der Zeitunglesen für viele zum Teil des Alltags wurde (Koenen 2012).
„Ein wichtiges Moment für das Auftreten und Bekanntwerden der Generalanzeiger bildet die massenhaft verbreitete programmatische Verbreitung ihrer Grundsätze“, so vor allem des unbedingten Publizitätsprinzips, schreibt Hans-Wolfgang Wolter (1981: 176) in der wichtigen Studie über die Generalanzeigerunternehmungen Wilhelm Girardets. Entsprechend heißt es beispielsweise im Gründungsprogramm des von Girardet verlegten Generalanzeigers für Leipzig und Umgebung, mit dem dieser am 7. Oktober 1886 auf den Leipziger Zeitungsmarkt trat: „Es fehlt hier ein Abendblatt, welches in allen Schichten der Bevölkerung gleichmäßig verbreitet ist und von jedermann gelesen wird.“ (Wolter 1981: 320) Girardet definierte den Leipziger Generalanzeiger als „ein ‚Organ für alle‘“, das künftig „in fast jeder Familie anzutreffen“ sein wird und „von den Angehörigen aller Berufszweige und aller Gesellschaftsklassen gelesen“ werden wird (Wolter 1981: 320). Hierfür wurde der Generalanzeiger in der Einführungsphase mittels eines engmaschigen Vertriebssystems in ganz Leipzig und Umgebung mit einer Startauflage von 31.000 Exemplaren sogar „gratis ins Haus“ (Wolter 1981: 320) gebracht und verteilt.
Um die einmal erreichten Leser langfristig an sich zu binden und nicht wieder zu verlieren, setzte man auf verlegerische Innovationen sowohl bei der Finanzierung als auch bei der möglichst publikumswirksamen, d. h. insbesondere politisch neutralen und populären inhaltlichen Gestaltung der Generalanzeiger:
Finanzierung durch Anzeigen
Auch nach der Gratiseinführung sollten die Abonnements und Bezugspreise für die Generalanzeiger weiter für alle erschwinglich bleiben. Gleichzeitig galt es, die hohen Auflagen kostendeckend zu produzieren. Wesentlich für die Kalkulation wurde die Quersubventionierung durch Anzeigen, die statt der Einnahmen aus dem Verkauf „zentrale Geschäftsgrundlage der Generalanzeiger“ (Stöber 2000: 232) wurde. So positionierte sich zum Beispiel der Leipziger Generalanzeiger in seinem Gründungsprogramm von Anfang an „auf Grund einer Auflage, die so bedeutend ist, daß sie die Höhe der Gesamtauflage aller anderen täglich hier erscheinenden Zeitungen erreichen dürfte“, als „ein Insertionsorgan ersten Ranges“ am Platz, „in welchem die Publikationen von Behörden und Vereinen, Geschäfts-Empfehlungen, Vergnügungs-Anzeigen, Kauf-, Miet- und Stellen-Gesuche, sowie Angebote etc. eine Verbreitung finden, wie sie im gleichen Maße kein anderes hiesiges Preßorgan zu bieten vermag“ (Wolter 1981: 320-321).
Publikumswirksamkeit durch politisch neutrale und populäre Inhalte
Inhaltlich profilierten sich die Generalanzeiger namentlich mittels der „publizistischen Kriterien Aktualität, Universalität und Publizität“ (Stöber 2000: 234) und legten so die Grundlage für eine vollkommen neue Leser-Blatt-Bindung. Statt wie die Partei- und politische Presse die Leser vornehmlich über politische Einstellungen, Meinungen und Standpunkte anzusprechen und zu gewinnen, verpflichteten sich die Generalanzeiger ganz im Sinne des Prinzips einer ‚Zeitung für alle‘ auf unbedingte politische Neutralität. Statt einiger weniger ‚richtiger‘ Leser, wollte man möglichst viele Leser erreichen. In dieser Weise versprach u. a. der Leipziger Generalanzeiger in seinem Gründungsprogramm, sich „stets größter → Objektivität und → Unparteilichkeit zu befleißigen. Insbesondere wird der politische Standpunkt des Blattes ein streng neutraler und vom Einfluß der Partei-Doktrinen ganz unabhängiger sein“ (Wolter 1981: 320). Wichtiger sei es, den Lesern abwechslungsreich und aktuell „stets die ‚neuesten → Nachrichten‘ des Tages zu bringen“ und sie „über das Wichtigste und Interessanteste auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens zu unterrichten“ (Wolter 1981: 320). Neben dem Aktuellen erwarteten den Leser → Lokalnachrichten aus der engsten Lebenswelt und viel Unterhaltung (u. a. → Feuilleton-Artikel, Lebenshilfe, spannende Romane in Fortsetzungen).
Ohne Kritik blieb das „pragmatische Prinzip“ der Generalanzeiger mit dem „systematisch verfolgten Ziel der Publizitätssteigerung“ (Wolter 1981: 176) nicht. Der Erfolg, die großen Gewinnspannen und die „ökonomische Potenz“ der Generalanzeiger zogen immer wieder harsche Auseinandersetzungen mit der Konkurrenz nach sich, die 1894 sogar in der Gründung des Vereins Deutscher Zeitungsverleger „zur Abwehr der Generalanzeiger“ gipfelten (Stöber 2000: 233). Besonders bei der Finanzierung durch Anzeigen und Reklame verkenne man die Gefahren des unkontrollierbaren Einflusses der einzelnen Inserenten auf den redaktionellen Teil, so ein Vorwurf, der auch zum „Stereotyp“ (Stöber 2000: 233) der Pressekritik der Zeit wurde. Ein weiterer Vorwurf betraf die politische Farb- und Parteilosigkeit und Schlichtheit der → Inhalte, mit denen man den Lesern nicht mehr als nach dem Mund rede. Trotz solcher Kritik setzten sich die verlegerischen Innovationen der Generalanzeiger zur → publikumswirksamen Aufmachung und Gestaltung sowie zur Quersubventionierung des redaktionellen Teils langfristig durch und wurden mit späteren Zeitungstypen wie der Straßenverkaufszeitung in Umsetzung und Vertrieb verfeinert und weiterentwickelt (Stöber 2000: 234).
Literatur:
Dovifat, Emil: Die Anfänge der Generalanzeigerpresse. In: Archiv für Buchgewerbe und Gebrauchsgraphik, 65, 1928, S. 163-184.
Dovifat, Emil: Generalanzeiger. In: Walther Heide (Hrsg.): Handbuch der Zeitungswissenschaft. Bd. 1. Leipzig [Karl W. Hiersemann] 1940, S. 1217-1232.
Koenen, Erik: ‚Wie und nach welcher Richtung entwickelte sich das Lesebedürfnis der Arbeiterschaft?‘ Eine historisch-empirische Fallstudie zur ‚Entfesselung‘ der Mediennutzung im langen 19. Jahrhundert. In: Publizistik, 57(1), 2012, S. 27-54.
Koszyk, Kurt: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert. Berlin [Colloquium Verlag] 1966.
Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist. München [C.H. Beck] 1998.
Stöber, Rudolf: Deutsche Pressegeschichte. Einführung, Systematik, Glossar. Konstanz [UVK Medien] 2000
Wilke, Jürgen: Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien [Böhlau Verlag] 2000.
Wolter, Hans-Wolfgang: Generalanzeiger – das pragmatische Prinzip. Zur Entwicklungsgeschichte und Typologie des Pressewesens im späten 19. Jahrhundert mit einer Studie über die Zeitungsunternehmungen Wilhelm Girardets (1838-1918). Bochum [Studienverlag Brockmeyer] 1981.