Heinrich von Kleist

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Kleist, Bernd Wilhelm Heinrich von, geb. 18.10.1777 in Frankfurt/Oder, gest. 21.11.1811 am Wannsee bei Berlin.

Niemand hat ihm das Blattmachen in die Wiege gelegt. Herkunft und Stand sehen eine Karriere als Offizier oder hoher Beamter vor. Er selbst ersehnt nichts mehr als Dichterruhm, den er aber nie erlebt. Heinrich von Kleist, menschenscheu, gehemmt, führt ein glückloses Leben und rennt immer wieder in berufliche Sackgassen. Schließlich treiben ihn Geldnot und politisches Ressentiment in den Journalismus. Auch hier scheitert er – und doch macht ihn ein Leitsatz auch zum Pionier moderner Publizistik.

1777 in eine Offiziersfamilie hineingeboren, wird der junge Adlige schon mit 14 Jahren Gefreiter-Korporal im Garderegiment Potsdam. Sieben Jahre später quittiert er als Leutnant den Militärdienst (damals ein Affront) und beginnt in Frankfurt/Oder ein Studium (Jura und Kameralia). Nach drei Semestern gibt er auf. Er reist, nach kurzem Volontariat im preußischen Wirtschaftsministerium, rastlos durch Deutschland, nach Paris, in die Schweiz. Der Plan, als Bauer auf einer Insel bei Thun zu leben, bleibt Utopie. Erste Dramen und Novellen entstehen, bringen aber keine Anerkennung. Seine finanziellen Mittel sind erschöpft, er überwirft sich mit seinem engsten Freund, zu Frauen findet er keine Bindung. In seiner Not dient sich der preußische Ex-Leutnant mit 26 Jahren Napoleon an, will mit ihm nach England übersetzen. Man weist ihn zurück. Der Gedemütigte bricht zusammen, lässt sich in Mainz behandeln, kehrt nach obskuren Paris-Reisen in den preußischen Staatsdienst zurück – um nach zwei Jahren erneut aufzugeben.

1807 nehmen ihn Bonapartes Agenten im besetzten Berlin als vermeintlichen Spion gefangen. Nach sechs Monaten Festungshaft in Frankreich übersiedelt Kleist nach Dresden. Er plant eine Verlagsbuchhandlung und hofft, einen Druckauftrag für den napoleonischen Code Civil zu erhalten. Auch das zerschlägt sich. Was unterdessen gedeiht, ist sein schriftstellerisches Werk (u.a. Amphitryon, Penthesilea, Der zerbrochene Krug, Michael Kohlhaas) – und sein Ressentiment gegen den Kaiser der Franzosen. In Auszügen veröffentlicht Kleist seine Werke in der mit Adam Müller edierten Zeitschrift Phoebus. Nach gut einem Jahr ist auch dieses Projekt finanziell am Ende, das keine journalistischen, sondern ausschließlich literarische Ziele verfolgt. Kleist zieht nach Prag, wo er erneut ein literarisches Magazin ins Leben rufen will. Diese Germania soll nun mit anti-napoleonischem Pathos „den Schlachtgesang herabdonnern ins Tal! Dich, o Vaterland, will sie singen; und deine Heiligkeit und Herrlichkeit; und welch ein Verderben seine Wogen auf dich heranwälzt!“ (Kleist 1982: 889f.) Auch Germania, das Projekt eines Gekränkten und Verzweifelten, wird nie erscheinen.

„Keine Vollendung, nirgends“ – so bilanziert Kleists Biograph Jens Bisky (2007: 7) dieses kurze, schnelle, bizarre Leben. Vollendung könnte sich noch einstellen mit der letzten Chance, die Kleist 1810 in Berlin erhält. Völlig unerwartet tritt er hier, wohl aus schierer Geldnot, als Herausgeber und Alleinredakteur eines neuartigen Lokalblattes in Erscheinung, der Berliner Abendblätter. Die Hauptstadt Preußens bestaunt eine publizistische Innovation – für einige Wochen. Dann hat Kleist erneut verspielt. Schon nach einem halben Jahr ist die Zeitung am Ende. 1811 erschießt sich Kleist zusammen mit seiner krebskranken Bekannten Henriette Vogel am Wannsee bei Berlin. Erst jetzt beginnt, was er ersehnte: der Welterfolg als Dramatiker und Erzähler.

Ein Platz kommt Heinrich von Kleist gleichwohl auch in der Ahnengalerie des modernen Journalismus zu. Denn dieses von Affekten, Sprüngen und Widersprüchen gekennzeichnete Leben war auch ein Leben im Widerspruch zu den Konventionen und Institutionen seiner Zeit. „Ich soll thun was der Staat von mir verlangt, und doch soll ich nicht untersuchen, ob das, was er von mir verlangt, gut ist. Zu seinen unbekannten Zwecken soll ich ein bloßes Werkzeug sein – ich kann es nicht“ (Kleist 1999: 156). So schrieb er an seine Schwester Wilhelmine. Die Ungebundenheit, die Distanz zur Staatsmacht, zu der sich der junge Adlige hier bekannte, war in Preußen damals höchst ungewöhnlich. Bemerkenswert ist, dass Kleist diese Haltung auch in einem journalistischen Manifest formulierte – seiner einzigen theoretischen Äußerung zu dem Beruf, den er kurz vor seinem Tod noch ergriff.

Dieses Dokument, das Lehrbuch der französischen Journalistik (Kleist 1982: 892-897), hat Egon Erwin Kisch aus gutem Grund in seine Sammlung Klassischer Journalismus aufgenommen (Kisch o.J.: 89-93). Denn es enthält, weitsichtig genug, erstmals in Deutschland eine entschiedene Abgrenzung von Öffentlichkeitsarbeit und Journalismus und erklärt dessen Unabhängigkeit zur obersten Maxime – wenngleich Kleist auch hier von Ressentiment getrieben war.

Der Text, ebenfalls geplant für die Germania, ist eine Polemik gegen die Pressepolitik Napoleons. Dieser hatte viele Zeitungen verboten und das einstige Revolutionsblatt Moniteur in ein PR-Organ des Kaiserreichs umgedreht. Gegen diese Verkehrung freier Berichterstattung in die „Kunst, das Volk glauben zu machen, was die Regierung für gut findet“ (Kleist 1982: 893), schreibt Kleist in einer (etwas verworrenen) Mischung aus Ironie und Empörung an. Bedeutsam für die Journalismusgeschichte aber ist das aus dem Negativbeispiel gewonnene positive Prinzip einer demokratischen Presse, das Kleist an den Anfang seiner Streitschrift stellt: „§ I. Die Journalistik [= der Journalismus, G.R.] überhaupt, ist die treuherzige und unverfängliche Kunst, das Volk von dem zu unterrichten, was in der Welt vorfällt. Sie ist eine gänzliche Privatsache, und alle Zwecke der Regierung, sie mögen heißen, wie man wolle, sind ihr fremd“ (Kleist 1982: 892).

Aber ohne Widerspruch ist Kleist nicht zu haben. Schon bald war er bereit, sein Axiom zu widerrufen. Als er mit den Abendblättern an die Öffentlichkeit trat, machte er zunächst Furore mit ungewohnten Kriminalmeldungen. Er bewies Gespür für den Boulevard, für das Kleine wie für das Spektakuläre im Alltag der Hauptstädter, „erfand“ gleichsam den Lokaljournalismus (vgl. im Einzelnen Reus 2016). Berlins Polizeipräsident unterstützte ihn dabei mit Material. Kleist entwickelte in Ansätzen auch einen reportageähnlichen Stil. Polemische Leidenschaft investierte er in seine Theaterberichte. In beidem, dem Lokalen wie dem Feuilleton, hätte er professionelle Weiterentwicklung und „Vollendung“ anstreben können.

Aber es kam nicht dazu. Mit ständigen Attacken auf Berlins allgewaltigen Theaterintendanten Iffland trieb er es zu weit. Der hatte Kleists Drama Käthchen von Heilbronn abgelehnt; Kleist rächte sich schäbig, indem er Iffland der Homosexualität bezichtigte. Er beschuldigte ihn, sich mit Gefälligkeiten die Berliner Theaterkritik gewogen zu machen.  Als es in anderem Zusammenhang zu einem Bühnentumult kam, wurde ihm verboten, weiterhin über Theater in Berlin zu berichten. Nach einem Konflikt um Beiträge von Kleists Mitarbeiter Adam Müller lieferte auch der Polizeipräsident keine Nachrichten mehr. Die gewohnten Themen gingen aus. Um neue bemühte sich Kleist nicht, stopfte dagegen mit seinen literarischen Texten und Zusammengeklaubtem aus anderen Zeitungen die Spalten voll. Die Auflage der Abendblätter sackte rapide ab. Kleist versuchte, den Niedergang zu verhindern. Er flehte, buckelte, schwor ab im Kontakt mit der preußischen Regierung (vgl. im Einzelnen Reus 2016). Er diente sein Blatt als „eine Art Staatsanzeiger“ (Hohoff 1958: 147) an – und verleugnete seinen eigenen Lehrsatz von der Staatsferne des Journalismus: In einem Brief an Kanzler Hardenberg vom 13. Februar 1811 pochte er auf staatliche Unterstützung, redigiere er doch ein „halb-ministerielles Blatt […] in Zwecken der Staatskanzlei“ (Kleist 1999: 469; Hervorh. v. G. R.). Die Berliner Abendblätter wurden dennoch am 30. März 1811 eingestellt, nach nur sechs Monaten.

Kleists „§ 1“ aber ist auch nach über 200 Jahren der wichtigste Leitsatz eines demokratischen Journalismus geblieben.

Literatur:

Aretz, Heinrich: Heinrich von Kleist als Journalist. Untersuchungen zum ‚Phöbus‘, zur ‚Germania‘ und den ‚Berliner Abendblättern‘. Stuttgart [Heinz] 1984.

Bisky, Jens: Kleist. Eine Biographie. Berlin [Rowohlt] 2007.

Grathoff, Dirk: Die Zensurkonflikte der Berliner Abendblätter. Zur Beziehung von Journalismus und Öffentlichkeit bei Heinrich von Kleist. In: Peter, Klaus; Dirk Grathoff; Charles N. Hayes; Gerhard Loose (Hrsg.): Ideologiekritische Studien zur Literatur. Essays I. Frankfurt/M. [Athenäum] 1972, S. 35-168.

Hohoff, Curt: Heinrich von Kleist in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg [Rowohlt] 1958.

Jessen, Hans: Heinrich von Kleist (1777-1811). In: Fischer, Heinz-Dietrich (Hrsg.): Deutsche Publizisten des 15. bis 20. Jahrhunderts. Pullach/Berlin [Verlag Dokumentation] 1971, S. 171-178.

Kleist, Heinrich von (Hrsg.): Berliner Abendblätter. Nachwort und Quellenregister von Helmut Sembdner. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 1959.

Kleist, Heinrich von: Sämtliche Briefe. Herausgegeben von Dieter Heimböckel. Stuttgart [Reclam] 1999.

Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Nach dem Text der Ausgaben letzter Hand unter Berücksichtigung der Erstdrucke und Handschriften. Mit einem Nachwort und Anmerkungen von Curt Grützmacher. 6. Auflage. München. [Winkler] 1982.

Kisch, Egon Erwin: Klassischer Journalismus. Die Meisterwerke der Zeitung. Nachwort Christian Siegel. München [Rogner & Bernhard] o. J.

Reus, Gunter: Sinn für den Boulevard und die ,Nationalidee‘. Heinrich von Kleist und sein Lehrsatz von der Staatsferne des Journalismus. In: Pöttker, Horst; Alexander I. Stan’ko (Hrsg.): Mühen der Moderne. Von Kleist bis Tschechow – deutsche und russische Publizisten des 19. Jahrhunderts. Köln [Herbert von Halem Verlag] 2016, S. 20-69.

Schulz, Gerhard: Kleist. Eine Biographie. München [Beck] 2007.

Sembdner, Helmut: Die Berliner Abendblätter Heinrich von Kleists, ihre Quellen und ihre Redaktion. Mit 1 Faksimile und 9 Abbildungen auf 7 Tafeln. Berlin 1939.

Sembdner, Helmut (Hrsg.): Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenossen. 7. Auflage. München [Hanser] 1996.

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Gunter Reus
*1950, Prof. Dr., ist apl. Professor i. R. für Journalistik an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Kulturjournalismus, Pressejournalismus, Journalismusforschung, Sprache und Stil der Massenmedien. Kontakt: gunter.reus (at) ijk.hmtm-hannover.de Gunter Reus hat Einführungsbeiträge zum → journalistischen Jargon sowie zu → Sprache und Stil im Journalismus geschrieben.