Daniel Defoe

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Daniel DafoeDaniel Defoe – ein Startup des Journalismus
Geb. um 1660 als Daniel Foe, vermutlich in London, gest. 24. April 1731 in London.

Geburtsdatum und -ort Daniel Defoes sind unsicher. Vermutlich kam er als Sohn von Annie und James Foe zwischen 1659 und 1662 in London zur Welt. Sein Vater war ein betuchter Talghändler und Mitglied der Fleischerinnung. Das adelig klingende De- setzte der später weltberühmte Autor des Robinson Crusoe ab 1695 vor seinen Namen; konsequent dann mit dem Erfolg seines satirischen Gedichts The True-Born Englishman von 1700 (Defoe 1997a), mit dem er für Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten warb.

In Defoes Kindheit fallen Ereignisse, die sich für → Reportagen geeignet hätten. 1665 raffte die Pest große Teile der Bevölkerung Londons hinweg, 1666 verloren durch einen Brand Zigtausende von Menschen in der City ihr Zuhause, 1667 drangen holländische Kriegsschiffe über die Flüsse Themse und Medway in Kent ein und zerstörten einen Teil der Royal Navy. 1703 erlebte Defoe, als er wegen seines politisch anstößigen Pamphlets The Shortest Way with the Dissenters (Defoe 1997b) im Gefängnis saß, den schwersten Orkan seit Menschengedenken über England. Diesem widmete er sein Buch The Storm (Defoe 1704) – als mit zahlreichen, systematisch gesammelten Äußerungen von Augenzeugen und anderen Reportage-Elementen gespickter Bericht eines der ersten Werke des modernen Journalismus (vgl. McKay 2007).

Defoe war vieles in seinem Leben, Geschäftsmann, der die Erfahrung eines Bankrotts verarbeiten musste, Sozialreformer und Politikberater, last but not least Romanschriftsteller. Vor allem seine Tätigkeit als → Herausgeber und Autor des Periodikums The Review, das von 1704 bis 1713 zeitweise drei Mal in der Woche erschien, weist ihn als einen der ersten Zeitungsschreiber aus, der die Berufsbezeichnung ‚Journalist‘ verdient hätte. Denn was er hier über seine Tätigkeit veröffentlicht hat, zeigt bereits ein waches Bewusstsein von der Aufgabe, den Voraussetzungen, den Arbeitsweisen und den Problemen, die diesen Beruf bis heute bestimmen. So bezieht er 1711 gegen die von der letzten Stuart-Königin Anne und den regierenden Tories geplante Besteuerung der Presse Stellung und verweist auch darauf, dass die Stempelsteuer im Pressesektor tätige Familien ihrer wirtschaftlichen Existenz berauben würde (Payne 1951: 78f.). Anders als Karl Marx 130 Jahre später, der bekanntlich meinte, die erste Freiheit der Presse bestehe darin, kein Gewerbe zu sein (vgl. Fetscher 1969: 92), blickt Defoe, noch Verleger, → Redakteur und Autor in einer Person, weniger auf die Widersprüche als auf die Gemeinsamkeiten von Presse- und Gewerbefreiheit.

Defoes Sinn für die journalistische Aufgabe Öffentlichkeit
Defoe zeigt eine bemerkenswerte Sensibilität für die Nützlichkeit, ja Notwendigkeit von ‚Öffentlichkeit‘ für die Gesellschaft und jedes ihrer Individuen. → Öffentlichkeit ist erforderlich, damit sich, wie er es ausdrückt, wissenschaftliche, moralische und religiöse Einsichten verbreiten können. Insofern ist sie eine Voraussetzung dafür, dass Menschen ihr Leben auf der Höhe der Kulturentwicklung gestalten und sich gegen Angriffe zur Wehr setzen können.
Mit Öffentlichkeit meint Defoe die Abwesenheit von Kommunikationsbarrieren. Was öffentlich ist, ist allen zugänglich. Den Begriff positiv zu füllen, etwa im Sinne einer Art von politischer, für das Funktionieren von Staatsorganen notwendiger Institution (‚vierte Gewalt‘), ist erst später versucht worden.

Defoe wusste jedoch: → Pressefreiheit ist weder kultureller Luxus noch journalistisches Privileg. Sie ist ein funktionsnotwendiges Element moderner, stark parzellierter, von vielen Kommunikationsbarrieren durchzogener Gesellschaften, von der ihre Problemverarbeitungsfähigkeit, d. h. ihre Existenz abhängt. Jede Herrschaft, die die grundsätzliche Freiheit der publizistischen Arbeit von oben oder außen einschränkt, schadet über kurz oder lang der Gesellschaft und damit sich selbst. Indem Defoe das Herstellen von Öffentlichkeit als seine Aufgabe erkennt, schreibt er dem später so genannten Journalismus eine systemrelevante Bedeutung zu.

Defoes Sinn für journalistische Praxis
Defoe hatte bereits Sinn für eine Reihe von Grundsätzen, Arbeitsweisen und Unarten, die bis heute zur journalistischen Praxis gehören.
Er konnte das journalistische Genre der Pyramiden-Nachricht zwar noch nicht kennen, das sich erst in den 1880er Jahren professionell durchgesetzt hat (vgl. Pöttker 2014), aber das  → ‚Aktualitätsprinzip‘, das ihm zugrunde liegt, hatte er bereits begriffen, wie am Beispiel seines Kommentars zur Stempelsteuer deutlich wird: „Wer reden will, sollte sich gleich zu Wort melden; und wer wenig Zeit zum Reden hat, sollte schnell zur Sache kommen. Ich warte daher nicht, bis der Erlass gedruckt ist, sondern reagiere schon jetzt auf den ärgerlichen Hinweis im Examiner, dass mit der Erhebung einer Steuer auf Presseprodukte zu rechnen sei.“ (Payne 1951: 77; Übers.: H. P.)

Defoe hielt sogar gesetzliche Schritte gegen den Usus, nur die Initialen von Autoren anzugeben, für gerechtfertigt (Payne 1951: 81). Damit nahm er das später im → Medienrecht verankerte Prinzip der → ‚Wahrhaftigkeit‘, der Zurechenbarkeit von Verantwortung für Veröffentlichtes, vorweg.
1712 beklagt er „mit einem traurigen Blick auf die Gegenwart“, dass „das Veröffentlichen eigener Erfindungen und deren Verbreitung als Nachrichten, um den Interessen der Partei zu dienen, mit der man sympathisiert, derart zur Praxis geworden ist, dass man es als Volkssport bezeichnen kann. […] Es wäre eine zu schmutzige Arbeit, im üblichen Parteiendickicht zu harken und besondere Erbärmlichkeiten hervorzukehren […]“ (Payne 1951: 73; Übers.: H. P.).

Defoes publizistisches Engagement für ‚Unabhängigkeit‘ zeigt sein frühes Bewusstsein davon, dass die journalistische Aufgabe, Öffentlichkeit herzustellen, und politische Teilnahme am Kampf um Herrschaft unvereinbar sind. Journalismus erfordert, nicht äußern zu müssen, was Parteien, Regierungen, Verbände, Kirchen oder Konzerne gern hätten. Das wussten im 19. Jahrhundert sogar Karl Marx und Friedrich Engels, die sich darin einig waren, „nur ein auch von der Partei selbst pekuniär unabhängiges Blatt haben“ zu wollen. Denn „abhängig zu sein, selbst von einer Arbeiterpartei, ist ein hartes Los“ (Fetscher 1969: 234), wie Engels an August Bebel geschrieben hat.

Defoe hatte aber auch schon die journalistische Unart im Blick, erst einmal Ungesichertes zu verbreiten, das sich gegebenfalls später dementieren lässt. Am Beispiel der Wirtschaftsnachrichten zeigte er sich „[…] überzeugt, dass […] Fälschungen den Lügnern selbst dann Nutzen bringen, wenn sie sich nur ein paar Stunden aufrechterhalten lassen. […] Ihren Erfindern hat die Wahrheit am Ende nicht geschadet. […] Sie schlugen nämlich sogar noch Vorteil aus dem Aufdecken ihrer eigenen Fälschungen, machten einen zweiten Gewinn, indem sie billig zurückkauften, was sie vorher für zwei oder drei Prozent teurer verkauft hatten. In der Politik ist es das Gleiche.“ (Payne 1951: 75; Übers.: H. P.)

Defoes Sinn für die innere Grenze der Pressefreiheit
Defoe lässt keinen Zweifel, dass mit Pressefreiheit kein Freibrief für die Publikation beliebiger Aussagen gemeint sein kann: „Ich habe immer gedacht, ein Recht der Engländer sei die Freiheit, offen über Angelegenheiten von allgemeinem Interesse zu sprechen, mit der einzigen Einschränkung, dass diese Rede wahr ist. Aber ich habe niemals daran gedacht, aus der Redefreiheit eine generelle Erlaubnis zum Fälschen werden zu lassen, zu einem Spielraum, um aus eigener Machtvollkommenheit ohne Respekt vor den Tatsachen sagen zu können, was einem gerade gefällt.“ (Payne 1951: 73; Übers.: H. P. )
Neben dem Bemühen um Unabhängigkeit und um Wahrhaftigkeit geht es ihm um Richtigkeit der Tatsachen, um den notwendigen „respect to matters of fact“ (Payne 1951: 73). Viel weiter hat uns der erkenntnistheoretische Fortschritt in drei Jahrhunderten seitdem nicht gebracht: Richtigkeit heißt, dass eine Aussage mit dem übereinstimmt, was nach intersubjektiver Sinneswahrnehmung (Erfahrung, Empirie) als ‚Tatsache‘ zu gelten hat. Das ist immer noch eine unverzichtbare Forderung an journalistische Informationen: Sie müssen zutreffen, stimmen, intersubjektiver Überprüfung standhalten; im Journalismus gilt ein empirischer Wahrheitsbegriff.

Beides, Richtigkeitsbindung und grundsätzliche Freiheit, sind notwendige Voraussetzungen für das Gelingen journalistischer Arbeit. Sie schließen sich nicht aus, sondern bedingen sich wechselseitig. Defoe war die Dialektik der Pressefreiheit bereits bewusst: Wird sie von Journalisten genutzt, ohne die Richtigkeitsbindung zu beachten, führen die so entstehenden Fehlleistungen zur Legitimität äußerer Einschränkungen der Kommunikationsfreiheit. Journalisten müssen nicht zuletzt deshalb richtig, wahrhaftig und unabhängig berichten, um die Medienfreiheit als notwendige Voraussetzung dafür zu verteidigen, dass sie die Aufgabe ihres Berufs, das Schaffen von Öffentlichkeit erfüllen können.

In einem Punkt hat Defoe sich geirrt: Ob etwas richtig ist oder nicht, bemisst sich im Journalismus nicht daran, ob man es sich vorstellen kann. So hält er den Wahrheitsgehalt von Nachrichten für falsch, wenn sie dem ‚gesunden Menschenverstand‘ widersprechen: „Wie unsere Nachrichtenschreiber den Krieg anheizen, indem sie sich in jeder Ausgabe mit Lügen bewerfen, so wie unsere Buben sich auf der Straße mit Schmutz bewerfen. […] Ist diese Geschichte glaubhaft? Handeln Engländer so? […] In welcher Zeit leben wir, dass wir so eine Nachricht durchgehen lassen?“ (Payne 1951: 74; Übers.: H. P). Richtigkeit bemisst sich allein daran, was Augen sehen, Ohren hören und Hände fühlen. Und die Sinneswahrnehmung sollte frei sein von dem, was Logik oder Humanität uns vorstellbar erscheinen lassen, besonders, wenn es die professionelle Wahrnehmung von Journalistinnen und Journalisten ist.

Defoes Sinn für literarische Unterhaltsamkeit
Daniel Defoe starb 1731, nachdem er in späten Lebensjahren noch die Romane Robinson Crusoe (1719), Moll Flanders (1722) und Roxana (1724) zu Papier gebracht hatte. Diesen fiktionalen Erzählungen legte er nicht-fiktionale Quellen zugrunde, im Falle Robinsons z. B. den Bericht des Obermaats der britischen Handelsmarine Alexander Selkirk, der von 1704 bis 1709 allein auf dem Pazifik-Eiland Mas a tierra gelebt und sich vom Fleisch und Fell verwilderter Ziegen erhalten hatte (vgl. Balsen 1997).

Defoe forderte noch keine Trennung von Information und Fiktion. Das zeigt ihn als einen frühen Vertreter des → ‚schriftstellerischen Journalismus‘ (vgl. Baumert 2013: 95-111) der Aufklärungsepoche, der sich bewusst subjektive und unterhaltsame Beimengungen zunutze machte, um Informationen besser beim Publikum ankommen zu lassen. Typische Vertreter sind in Deutschland z. B. Matthias Claudius (1740-1815) – der auch schon das Wort ‚Journalismus‘ kannte (vgl. Reus 2022) – oder die Strömung der Volksaufklärung (vgl. Pöttker 2002).

Die Forschung hat sich auf Defoe als Romanautor und Politik(berat)er konzentriert, sein Schaffen als Journalist spielt in der Fachliteratur bisher keine bedeutende Rolle (Ausnahmen immerhin z. B. McKay 2007; Nicolson 1951; Pöttker 1998/2018), obwohl er als einer der ersten, wenn nicht der erste Journalist mit einem wachen Bewusstsein von diesem Beruf, seiner Aufgabe und deren Bedingungen und Problemen gelten kann.

Literatur:

Balsen, Werner: Reif für die Insel. Auf den Spuren von Robinson Crusoe vor Chile. In: Frankfurter Rundschau, 21. 6. 1997, Wochenbeilage ‚Zeit und Bild‘.

Baumert, Dieter Paul: Die Entstehung des deutschen Journalismus. Eine sozialgeschichtliche Studie. Hrsg. v. Walter Hömberg. Baden-Baden [Nomos] 2013, zuerst 1928.

Defoe, Daniel: The Storm or, a Collection of the most Remarkable Casualties and Disasters which Happen’d in the Late Dreadful Tempest, both by Sea and Land. London [G. Sawbridge, John Nutt] 1704. (Defoe, Daniel: The Storm. CreateSpace Independent Publishing Platform 2017)

Defoe, Daniel: The True-Born Englishman. A Satyr. In: Furbank, Philip Nicholas; W. R. Owens (Hrsg.): The True-Born Englishman and Other Writings. London [Penguin] 1997a, S. 23-58.

Defoe, Daniel: The Shortest Way with the Dissenters or Proposals for the Establishment of the Church. In: Furbank, Philip Nicholas; W. R. Owens (Hrsg.): The True-Born Englishman and Other Writings. London [Penguin] 1997b, S. 131-148.

Fetscher, Iring (Hrsg.): Karl Marx; Friedrich Engels: Pressefreiheit und Zensur. Frankfurt a. M./Wien [Europäische Verlagsanstalt] 1969.

McKay, Jenny: Defoe’s The Storm as a model for contemporary reporting. In: Keeble, Richard; Sharon Wheeler (Hrsg.): The Journalistic Imagination. Literary journalists from Defoe to Capote and Carter. Abingdon/Oxon [Routledge] (Taylor & Francis) 2007, S. 15-28.

Nicolson, Marjorie: Introduction. In: Payne, William L. (Hrsg): The Best of Defoe’s Review: An Anthology. New York, NY [Columbia University Press] 1951, S. IX-XXI.

Payne, William L. (Hrsg.): The Best of Defoe’s Review: An Anthology. New York, NY [Columbia University Press] 1951.

Pöttker, Horst: Von Nutzen und Grenze der Medienfreiheit. Daniel Defoe und die Anfänge eines Ethos der Öffentlichkeitsberufe. In: Wunden, Wolfgang (Hrsg.): Freiheit und Medien. Beiträge zur Medienethik. Bd. 4. Frankfurt am Main [GEP] 1998, S. 207-226.

Pöttker, Horst: Unterhaltsame Politikvermittlung. Was von der deutschen Volksaufklärung des 18. Jahrhunderts zu lernen ist. In: Schicha, Christian; Carsten Brosda (Hrsg.): Politikvermittlung in Unterhaltungsformaten. Medieninszenierungen zwischen Popularität und Populismus. Münster/Hamburg u. a. [Lit] 2002, S. 61-72.

Pöttker, Horst: The news pyramid and its origin from the American journalism in the 19th century. A professional approach and an empirical inquiry. In: Høyer, Svennik; Horst Pöttker (Hrsg.): Diffusion of the news paradigm 1850-2000. Göteborg [Nordicom] 2014, S. 51-64.

Pöttker, Horst: Journalism Started with its Professional Ethos. Daniel Defoe on Publicness, Press Freedom and its Limits. In: Journalism Research, 1/3, 2018, S. 34-46.

Reus, Gunter: Der andere Claudius. Anmerkungen zu einem oft verkannten Publizisten. Darmstadt [Wissenschaftliche Buchgesellschaft] 2022.

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Horst Pöttker
*1944, Prof. Dr., Gründungsherausgeber des Journalistikons. Von 1996 bis 2013 Professor am Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund. Seit 2017 Initiator und Mitherausgeber der Online-Zeitschrift Journalistik/Journalism Research. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte des Journalismus, Berufsethik, journalistische Darstellungsformen. Kontakt: horst.poettker (at) tu-dortmund.de Horst Pöttker hat Einführungsbeiträge geschrieben zur → Geschichte des Journalismus, → Berufsethik, zu → journalistischen Genres sowie zur → Pressefreiheit.