Publizistische Einheit

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Definition:
Der Begriff der ‚Publizistischen Einheit‘ bezeichnet eine pressestatistische Maßzahl, die als Indikator für die Bestimmung der publizistischen Konzentration auf (lokalen) Zeitungsmärkten in Deutschland eingesetzt wird bzw. wurde. Der Begriff wurde von Walter J. Schütz entwickelt und ist wie folgt definiert:

Publizistische Einheit beschreibt „alle Verlage als Herausge­ber“ […], deren Mantel – im Regelfall die Seiten 1 und 2 mit aktuellen politischen Nachrichten – vollständig oder (bei Übernahme von Seitenteilen) in wesentlichen Teilen übereinstimmen. Daraus ergibt sich: Inner­halb einer ‚Publizistischen Einheit‘ haben alle ‚Ausgaben‘, unabhängig von ihrer verlegerischen Struktur, weitgehend den gleichen Zeitungsmantel. ‚Ausgaben‘, die dem gleichen ‚Verlag als Heraus­geber‘ zugeordnet sind, stimmen darüber hinaus auch in ihrem Impressum überein“ (Schütz 2012: 570).

Insbesondere → Lokalzeitungen erstellen den Zeitungsmantel, also den überregionalen und internationalen Teil der Berichterstattung, nicht selbst, sondern beziehen diesen von anderen → Redaktionen oder Redaktionsgemeinschaften. Sie stellen entsprechend keine selbstständigen Voll- bzw. Kernredaktionen mehr dar, sondern betreiben beispielsweise nur eine Lokalredaktion und tragen, so die Argumentation von Schütz, nur eingeschränkt zur publizistischen Vielfalt bei.

Die Einführung der Maßzahl ‚Publizistische Einheit‘ ist mit der Annahme verbunden, dass sowohl wirtschaftliche als auch publizistische Konzentration ein Strukturmerkmal der deutschen Presse ist (vgl. Beck 2018: 160ff.). Ökonomische Konzentration, z. B. durch die Fusion von (privatwirtschaftlichen) → Verlagen, muss nicht unbedingt auch eine publizistische Konzentration zur Folge haben, wenn etwa weiterhin in einem Verlag mehrere unabhängige Redaktionen für einzelne Zeitungstitel betrieben werden. Auch wenn, wie im Marktgeschehen häufig zu beobachten ist, ökonomische Konzentration durch redaktionelle Fusions- und Kooperationsvorgänge mit publizistischer Konzentration einhergeht, sind beide Aspekte voneinander zu trennen. Die Publizistische Einheit dient entsprechend als Indikator, um die strukturelle Vielfalt bzw. Konzentration auf Pressemärkten zu beschreiben. Sie folgt der Annahme, dass eine eigenständige (unabhängige) Vollredaktion die Voraussetzung für die Erstellung eines eigenständigen Medienprodukts (der Zeitung) ist.

Geschichte:
Der Begriff der Publizistischen Einheit wurde von Walter J. Schütz in den 50er Jahren im Zuge seiner Stichtagssammlung von Tageszeitungen in Deutschland entwickelt, mit der er einen wesentlichen Beitrag zur Bestimmung der strukturellen und inhaltlichen → Vielfalt des Zeitungsmarktes geleistet hat. Als „Mister Pressestatistik“ (Seethaler 2005) hat Schütz im Rahmen seiner seit 1954 regelmäßig durchgeführten Stichtagssammlungen alle zu einem ausgewählten Zeitpunkt in Deutschland verfügbaren Zeitungsausgaben erfasst, um das Zeitungsangebot in Deutschland hinsichtlich seiner verlegerischen und redaktionellen Struktur zu beschreiben (Schütz 2005a: 205) – sodass in der ‚Jubiläumsausgabe‘ von Zeitungen in Deutschland (2005b) über 10.000 Zeitungsausgaben dokumentiert sind. Basis der Untersuchung ist die Ausgabe als kleinste pressestatistische Einheit. Eine oder mehrere Ausgaben gehören wiederum zu einem Verlag als → Herausgeber, der im Impressum der Ausgabe erscheint. Als Publizistische Einheit fasst Schütz schließlich Verlage als Herausgeber zusammen, deren Ausgaben entweder in Teilen oder vollständig einen gemeinsamen Zeitungsmantel aufweisen, also redaktionell kooperieren. Anhand der Stichtagssammlungen von Schütz lässt sich der Verlust publizistischer Vielfalt als das Absinken der Publizistischen Einheiten von zunächst 225 (1954) auf zuletzt 130 (2012, letzte und achte Stichtagssammlung) dokumentieren (Schütz 2012).

Gegenwärtiger Zustand und Forschungsstand:
Als pressestatistische Maßzahl wurde die Publizistische Einheit einerseits im Rahmen medienpolitischer Analysen (wie den Medienberichten der Bundesregierung, die Schütz zeitweise auch mitverantwortete) genutzt, insbesondere aber auch als Grundlage für die Analyse der Vielfalts- und Konzentrationsentwicklung auf Pressemärkten sowie der Ziehung von Stichproben im Rahmen (kommunikationswissenschaftlicher) Inhaltsanalysen (vgl. u. a. Maurer/Reinemann 2006; Wilke 2007). Auch wenn mit den Daten aus dem Jahr 2012 die letzte Stichtagssammlung nunmehr zehn Jahre zurückliegt und seit dem Tod von Walter J. Schütz dieses aufwendige Verfahren nicht mehr fortgesetzt wurde, ist die Publizistische Einheit weiterhin ein relevanter Bezugspunkt für die Beschreibung der publizistischen Lage der Zeitungen, wie aktuelle Bezüge auf das Konzept belegen (vgl. u. a. Beiler/Gerstner 2019; Gerstner 2018; Gostomzyk et al. 2021; Vonbun-Feldbauer et al. 2020).

Der Vorteil der Stichtagssammlung, dass die Kriterien zur Beschreibung des Zeitungsangebots seit 1954 unverändert beibehalten wurden (Schütz 2005a: 205) geht allerdings auch mit einigen Schwächen einher, die die Maßzahl der Publizistischen Einheit betreffen und zu Kritik am Konzept geführt haben. Röper und Pätzold (1993) weisen etwa darauf hin, dass die Fokussierung auf den Zeitungsmantel als Kriterium für die Publizistische Einheit dazu führt, dass der Wert der Lokalberichterstattung als zentrale Leistung regionaler und lokaler Tageszeitungen nicht gewürdigt werde. Mit der Einrichtung neuer redaktioneller Kooperationsformen sowie dem Einsatz digitaler Produktionstechniken und Redaktionssysteme, die den Austausch von Artikeln deutlich vereinfachen, werden zudem zusätzliche Varianten der → Inhalte-Kombination möglich, die in der bestehenden Konzeption der Publizistischen Einheit (Fokus auf dem Mantelteil) nicht erfasst werden (HBI 2008; Dogruel et al. 2019). Dogruel et al. (2019) zeigen etwa auf Basis der Rekonstruktion struktureller Veränderungen bei regionalen und lokalen Tageszeitungsmärkten, dass verlagsübergreifende Kooperationen einen Komplexitätsgrad erreicht haben, der sich mit der bisherigen pressestatistischen Kennzahl der Publizistischen Einheit nicht (mehr) angemessen abbilden lässt. Eine differenziertere Betrachtung von Kooperationsformen sowie die Analyse von Überschneidungen redaktioneller Inhalte auf Artikel- (und nicht Mantelteil)-Ebene bieten Anknüpfungspunkte für eine Revision der Publizistischen Einheit als pressestatistische Maßzahl.

Literatur:

Beck, Klaus: Das Mediensystem Deutschlands: Strukturen, Märkte, Regulierung. 2. Auflage. Wiesbaden [Springer] 2018.

Beiler, Markus; Johannes R. Gerstner: Newsroom- und Newsdeskstrukturen zur Reduzierung von Binnenkomplexität im crossmedialen Journalismus. Quantitativ-qualitative Mehrmethodenstudie zur Struktur und Bewertung der Redaktionsform bei den deutschen Tageszeitungen. In: Dernbach, Beatrice; Alexander Godulla; Annika Sehl: Komplexität im Journalismus. Wiesbaden [Springer] 2019, S. 91-100.

Dogruel, Leyla; Simon Berghofer; Ramona Vonbun-Feldbauer; Klaus Beck: Die Publizistische Einheit als Auslaufmodell: Zur abnehmenden Validität eines pressestatistischen Standardmaßes. In: Publizistik, 64, 3, 2019, S. 329-344.

Gerstner, Johannes R.: Print in Motion: Qualität und Mehrwert der Onlinevideoangebote deutscher Tageszeitungen. Wiesbaden [Springer] 2018.

Gostomzyk, Tobias; Otfried Jarren; Frank Lobigs; Christoph Neuberger; Daniel Moßbrucker: Kooperative Medienplattformen in einer künftigen Medienordnung. In: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Medien- und Kommunikationsbericht der Bundesregierung 2021. Teil 2, 2021.

Hans-Bredow-Institut (HBI): Zur Entwicklung der Medien in Deutschland zwischen 1998 und 2007. Wissenschaftliches Gutachten zum Kommunikations- und Medienbericht der Bundesregierung, 2008.
https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/780568/51893043afef5ec2e27a816353382db7/2009-01-12-medienbericht-teil2-barrierefrei-data.pdf?download=1 [15.02.2022]

Maurer, Marcus; Carsten Reinemann: Medieninhalte. Eine Einführung. Wiesbaden [VS Verlag für Sozialwissenschaften] 2006.

Röper, Horst; Ulrich Pätzold: Medienkonzentration in Deutschland, Medienverflechtungen und Branchenvernetzungen. Düsseldorf [Europäisches Medieninstitut] 1993.

Schütz, Walter J.: Deutsche Tagespresse 2004. Zeitungsmarkt trotz Krise insgesamt stabil. In: Media Perspektiven, 5, 2005a, S. 205-232.

Schütz, Walter J.: Zeitungen in Deutschland. Verlage und ihr publizistisches Angebot 1949-2004. Berlin [Vistas Verlag] 2005b.

Schütz, Walter J.: Deutsche Tagespresse 2012. Ergebnisse der aktuellen Stichtagssammlung. In: Media Perspektiven, 11, 2012, S. 570-593.

Seethaler, Josef: Walter J. Schütz 75 Jahre. In: Publizistik, 50, 2005, S. 480-481.

Vonbun-Feldbauer, Ramona; Johanna Grüblbauer; Simon Berghofer; Jan Krone; Klaus Beck; Dennis Steffan; Leyla Dogruel: Regionaler Pressemarkt und Publizistische Vielfalt. Strukturen und Inhalte der Regionalpresse in Deutschland und Österreich 1995-2015. Wiesbaden [Springer] 2020.

Wilke, Jürgen: Das Nachrichtenangebot der Nachrichtenagenturen im Vergleich. Wiesbaden [Springer] 2007.

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Leyla Dogruel
Prof. Dr., ist seit 2017 Juniorprofessorin für Mediensysteme und Medienleistungen am Institut für Publizistik der Johannes Gutenberg-Universität, Mainz. Sie lehrt und forscht in den Bereichen Medieninnovationen, digitale Medien und Privatheit, der Governance algorithmisch kuratierter Kommunikationsumgebungen und den Leistungen (lokaler) Medienanbieter. Im Bereich Medienpluralismus konzentriert sich ihre Forschung auf (lokale) Medienmärkte und den (wirtschaftlichen) Druck im Kontext der strukturellen Veränderungen, denen insbesondere lokaljournalistische Angebote ausgesetzt sind.