Unparteilichkeit

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Wortherkunft: Das Grimmsche Wörterbuch kennt neben dem heute geläufigen Wort ‚Unparteilichkeit‘ (erstmals belegt für das Jahr 1618) ‚Unparteischaft‘, ‚Unpartischung‘ und ‚Unparteisamkeit‘. Diese Substantive sowie die zugehörigen Adjektive wie ‚unparteilich‘ und ‚unparteiisch‘ sind Ableitungen und markieren mit dem Präfix ‚un‘ den Gegensatz zum Konzept der ‚Parteilichkeit‘. Im Kern all dieser Ausdrücke steht das Wort ‚Partei‘, das heute stark politisch, aber auch rechtlich konnotiert ist. Der Begriff geht über das mittelhochdeutsche ‚partīe‘ letztlich auf das lateinische ‚pars‘ zurück, mit dem allgemein der Teil von etwas Ganzen gemeint war, aber auch eine Gruppe oder eine politische Fraktion.

Definition:
Unparteilichkeit bezeichnet eine Eigenschaft des Urteilens oder Handelns: Wer unparteiisch ist, gehört nicht a priori zu einer Partei, ergreift nicht voreingenommen Partei für eine Seite. Unparteilichkeit ist ein Attribut menschlichen Denkens und Agierens sowie eine zwischenmenschliche Erwartung. Diese Erwartung kann sich z. B. an Organisationen und Instanzen richten, aber auch an Redaktionen, Medienunternehmen oder einzelne → Journalistinnen und Journalisten. Mit dem Gegenteil, der Parteilichkeit, verhält es sich ähnlich: Menschen und Gruppen beanspruchen Zustimmung, Solidarität und Treue, manchmal auch von Medien. Diese Ambivalenz der Erwartungen stellt den Journalismus vor große Herausforderungen.

Verschiedene gesellschaftliche Subsysteme kennen Konkretisierungen der Unparteilichkeit. Sie ist eine klassische Rechtsnorm und konstituierend für den modernen Wissenschaftsbegriff. Im Sport beschreibt sie die wesentliche Anforderung an die Schiedsrichterleistung. Eine Spielart ist die Überparteilichkeit, wie sie von vielen Staatsoberhäuptern reklamiert wird. Mit Blick auf den Journalismus meint Unparteilichkeit heute u. a. eine unvoreingenommene Darstellung aller verfügbaren Fakten, aber auch die Berücksichtigung möglichst aller Perspektiven auf ein Geschehen. Unparteilichkeit ist schwer zu trennen von den journalistischen Konzepten der → Unabhängigkeit, der Neutralität, der → Objektivität und – aus der englischsprachigen Welt zu uns kommend – der Fairness.

Geschichte:
Unparteilichkeit ist einer der vielfach beschworenen und beworbenen journalistischen Leitwerte, deren Einlösung allerdings schwierig ist. Medien sind strukturell politischer oder ökonomischer Macht ausgesetzt, bis zur physischen Gewalt. Ohne die Diskussion aufzugreifen, wann Journalismus begonnen hat, lässt sich doch sagen: Gegenüber denjenigen, die Informationen verbreiten konnten, haben Mächtige meist durchzusetzen versucht, was sie für das Recht des Stärkeren oder des Reicheren hielten. Unparteiliche Berichterstattung war und ist aber nicht nur eine Frage der Möglichkeit, sondern auch der Werte und des Wollens. Die Parteinahme für Staat, Ideologie oder einzelne Machthaber gilt in einigen Gesellschaften normativ als Aufgabe des Journalismus. Sie wird unterrichtet, kontrolliert und von Systemtreuen aus Überzeugung erbracht (Blum 2014).

In überwiegend freien Gesellschaften sind Medien milderen Formen der beschriebenen Zwänge ausgesetzt. Besitzverhältnisse sind hier zu beachten und die Finanzierung, auch die indirekte durch Werbung und Anzeigen. Manche Medien entscheiden sich ohne Zwang für ein parteiliches Verhalten. Sie sahen und sehen sich als Vertreter bestimmter Ideen oder Interessen. Diese Tendenzmedien erheben allgemein oder sektoral erst gar nicht den Anspruch auf Unparteilichkeit. Sie wollen erkennbar für bestimmte Ziele kämpfen, sie wollen bestimmte gesellschaftliche Gruppen argumentativ und emotional binden. Ein in Deutschland bekanntes Beispiel für ein bedingtes Tendenzmedium sind Sender und Publikationen der Axel-Springer-Aktiengesellschaft, deren Grundsätze alle Redaktionen zum Eintreten für die Marktwirtschaft, für den Staat Israel und die Freundschaft zu den USA verpflichten.

Im Gegensatz dazu steht seit dem frühen 20. Jahrhundert ein US-amerikanischer, dann westlicher Informationsjournalismus. Er hat Unparteilichkeit und Objektivität nach und nach zu zentralen journalistischen Leitwerten entwickelt und sie in der beruflichen wie in der akademischen → Ausbildung verankert. Das programmatische Versprechen verstand sich als Gegenentwurf zu den Medien im Dienst totalitärer Staaten, doch auch als Reaktion auf das Erstarken von Werbung und Marketing in der Beeinflussung von → Öffentlichkeiten.

In diesem Geist wurden → Radio und Fernsehen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg von öffentlich-rechtlichen Anbietern geprägt, die auf dem Papier alle zur Unparteilichkeit angehalten waren. Auch die mit dem Dachbegriff des ‚Public Service‘ gemeinten Medien waren und sind nicht ohne jede Festlegung, sondern zumindest deklamatorisch auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte ausgerichtet. Eine im öffentlich-rechtlichen Sektor lange anzutreffende konzeptionelle Mutation der Unparteilichkeit ist die Ausgewogenheit. Ihr Ziel ist die einigermaßen ausgeglichene Repräsentanz aller als legitim empfundenen Interessen. In dieser Logik soll die Summe mehrerer Parteilichkeiten im Ganzen dann Unparteilichkeit der Berichterstattung ergeben. In den Jahrzehnten der Symbiose von westlichen Massenmedien und repräsentativer Demokratie wurde diese spezielle Art der Unparteilichkeit häufig zugunsten des Einflusses politischer Parteien interpretiert. Es ging im öffentlich-rechtlichen Bereich in Deutschland einige Zeit um einen Proporz beim journalistischen Personal und bis heute um die Zusammensetzung der Aufsichtsgremien. Ein Schlaglicht auf diesen Parteieneinfluss warf 2014 das Verfassungsgerichtsurteil zur Causa Brender (BVerfG 2014). In Italien teilten sich maßgebliche Parteien den Einfluss nach Sendern auf. In anderen Ländern nahmen die jeweiligen Regierungsparteien nach dem Motto ‚The winner takes it all‘ Zugriff auf die Leitungsposten.

Gegenwärtiger Zustand:
Die Matrix des westlichen Journalismus von BBC über CNN bis zu den Nachrichtenportalen hat sich global durchgesetzt, selbst in Nordkorea. Das gilt jedoch nur für Formate und Ästhetik, nicht für die Grundwerte. Freier Journalismus, der sich überhaupt für Unparteilichkeit entscheiden könnte, ist in vielen Ländern nicht existent oder gefährdet. Das zeigt die jährliche Weltkarte der → Reporter ohne Grenzen, in die staatliche und nichtstaatliche Verletzungen der Medienfreiheit unter 71 Aspekten einfließen.  Freiheit und → Vielfalt der Berichterstattung sind auch in westlichen Gesellschaften weiter Gefahren ausgesetzt. Auch darüber informieren die Reporter ohne Grenzen. Bei den elektronischen Medien hat sich in Europa allenthalben ein duales System entwickelt. In Deutschland gelten auch für die privaten Anbieter Grundsätze aus dem Spektrum der Unparteilichkeit wie die Sicherung von Vielfalt. In den meisten europäischen Ländern wächst der Druck auf die öffentlich-rechtlichen Anbieter, unter anderem wegen des obligatorischen Beitrags zur Finanzierung, aber auch weil Kritiker den Auftrag zur Verteidigung der Demokratie und ihrer Institutionen als Staatsnähe und insofern als parteilich deuten. In den USA fiel 1987 nach vier Jahrzehnten die ‚Fairness Doktrin‘, die für eine unparteiliche Berichterstattung im Rundfunk sorgen sollte. Damit war der Weg geebnet für extrem parteiische Medienangebote. Die rechtskonservative Talkradioshow von Rush Limbaugh und Fox News sind nur zwei Beispiele. Die gesellschaftlichen Folgen und Kosten lassen sich in den USA seit einiger Zeit bei jeder Wahl auf Bundesebene und im dysfunktionalen Parlamentarismus beobachten.

Der westliche Journalismus ist im 21. Jahrhundert widersprüchlicher Kritik ausgesetzt. Nicht nur in Deutschland stehen Schlagworte wie → ‚Lügenpresse‘ und ‚Systemmedien‘ dafür, dass einige Agitatoren und ein Teil der Gesellschaft die etablierten Medien im Ganzen für parteilich halten, für Komplizen eines Establishments, dessen eigeninteressiertes Handeln zu Lasten der ‚normalen Bevölkerung‘ geht. Auf der anderen Seite stehen Forderungen zum Beispiel aus Hochschulen und → Redaktionen nach mehr Parteinahme der Medien für soziale, antirassistische und Genderanliegen. Verlangt wird auch, die tradierte Vorstellung der Unparteilichkeit in Teilen für einen engagierten ‚Klimajournalismus‘ oder einen ‚Transformativen Journalismus‘ (Krüger 2021) aufzugeben. Zudem steht das seit einigen Jahren beliebte Element des ‚Faktenchecks‘ zumindest potenziell im Konflikt mit der Unparteilichkeit, da es recht selektiv eingesetzt wird. Diese schon genügend komplizierte Lage wird durch die Grundbedingungen der digitalen Informationswelt weiter erschwert. Dort hat zumindest bisher eine meinungsstarke, polarisierende und identitätsgeprägte Kommunikation besonderen Erfolg. Dieser Trend wird durch die Logik von Reichweiten, Algorithmen und Werbung noch verstärkt. Der auch in westlichen Gesellschaften schlechte Zustand der digitalen Nachrichtenkompetenz verschärft das Problem (Messmer 2021).

Forschungsstand:
Die Forschung belegt, dass Unparteilichkeit für viele Menschen ein herausragendes Kriterium bei der Beurteilung journalistischer Arbeit ist (Reuters Institute 2021). Doch ist nicht eindeutig, auf welche Bereiche und Formen ‚des Journalismus‘ sich der Anspruch beziehen soll. Sind es nur die → Nachrichten oder sind es auch → Reportagen, Analysen und → Interviews? Ist das mediale Angebot im Ganzen gemeint?  Die langjährige Beobachtung zeigt, dass nicht wenige Mediennutzer mit Unparteilichkeit vor allem das Einnehmen ihres eigenen parteilichen Standpunkts meinen.

Der westliche Journalismus hat sich von der problematischen → Gatekeeper-Vorstellung Walter Lippmanns gelöst. Auch der Leitwert Objektivität ist für viele inzwischen unhaltbar geworden. Immer deutlicher ist, wie stark journalistische Auswahlprozesse von Informationsknappheit, → Nachrichtenfaktoren und eigener Befangenheit geprägt werden. Auch in der Bewertung von Aussagen und Ereignissen sind Redaktionen keineswegs objektiv, sondern zeit- und zeitgeistgebunden. Das zeigt etwa Daniel C. Hallin (1989) in seinem Sphärenmodell.

Nach dem Abschied von der Objektivität rücken die verwandten Werte Unparteilichkeit und Neutralität noch stärker in den Blickpunkt. Doch auch hier gibt es Problempunkte, auf die u. a. die Debatten über ‚false balance‘, ‚bothsideism‘ und den ‚he said/she said‘-Journalismus hinweisen.

Eine zeitgemäße Vorstellung von Unparteilichkeit stellt auf das Prozessuale ab. Zu einem „Prinzip der Wahrhaftigkeit“ (Bertolaso 2021) gehören im Sinne von Dan Gillmor (2005) Gründlichkeit, Exaktheit, Fairness, Transparenz und Unabhängigkeit. Hinzufügen kann man die beständige redaktionelle Selbstprüfung auf alle Formen der Voreingenommenheit, also einen dauernden ‚bias-check‘.

Unparteilichkeit gebietet den Redaktionen weder moralischen Nihilismus noch eine politische Askese, die zwischen Demokratie und autoritärer Ordnung nicht Position zu beziehen vermag. Insofern spricht die BBC in ihren ‚Editorial Guidelines‘ unscharf, aber vermutlich klug von ‚due impartiality‘, also von angemessener, gebührender Unparteilichkeit. Entscheidend ist, dass Medien immer wieder überzeugend darlegen können, dass sie unabhängig sind. Entscheidend ist aber auch, dass sie immer wieder erläutern, auf der Basis welcher Grundhaltung ihre angemessene Unparteilichkeit in vielen Einzelfragen beruht.

Literatur:

BBC: Editorial Guidelines: Impartiality  https://www.bbc.co.uk/editorialguidelines/guidance/impartiality [12.3.2022]

Bertolaso, Marco: Rettet die Nachrichten. Köln [Herbert von Halem] 2021.

Blum, Roger: Lautsprecher und Widersprecher. Ein Ansatz zum Vergleich der Mediensysteme. Köln [Herbert von Halem] 2014.

Borchers, Nils S.; Selma Güney; Uwe Krüger; Kerem Schamberger (Hrsg.):

Transformation der Medien – Medien der Transformation. Verhandlungen des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft. Frankfurt am Main [Westend] 2021.

Bundesverfassungsgericht (BVerfG): Urteil des Ersten Senats vom 25. März 2014 – 1 BvF 1/11, Rn. 1-135

Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://www.woerterbuchnetz.de/DWB [03.2022]

Gillmor, Dan: The end of objectivity. Blogeintrag 20.01.2005. https://dangillmor.typepad.com/dan_gillmor_on_ grassroots/2005/01/the_end_of_obje.html?cid=8786342 [8.3.2022]

Hallin, Daniel C.: The uncensored war. The media and Vietnam. Berkeley [University of California Press] 1989.

Messmer, Anna Katharina; Alexander Sängerlaub; Leonie Schulz: Quelle Internet? – Digitale Nachrichten- und Informationskompetenzen der deutschen Bevölkerung im Test. Berlin [Stiftung Neue Verantwortung] 2021.

Satzung der Axel Springer SE: https://www.axelspringer.com/de/investor-relations/corporate-governance/satzung [12.3.2022]

Reuters Institute for the Study of Journalism: The Relevance of Impartial News in a polarized world. A report by JV Consulting commissioned by the University of Oxford, October 2021.

Reporter ohne Grenzen: Rangliste der Pressefreiheit 2021. https://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/rangliste-2021 [10.3.2022]

Reporter ohne Grenzen: Rangliste der Pressefreiheit 2021 – Methodische Hinweise zur Erstellung https://www.reporter-ohne-grenzen.de/fileadmin/Redaktion/Downloads/Ranglisten/Rangliste_2021/Methodik_Rangliste_der_Pressefreiheit2021_-_RSF.pdf

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Marco Bertolaso
*1962, Dr., hat Politik, Geschichte und Philosophie in Köln, Bonn, Paris und Oxford studiert. Nach dem Zivildienst im Bereich Flüchtlingshilfe und einigen Jahren als Assistent eines Bundestagsabgeordneten folgten die Anstellung beim Deutschlandfunk und eine berufsbegleitende Promotion in Neuerer Geschichte. Marco Bertolaso ist seit 2007 Nachrichtenchef des Deutschlandfunks. In den vergangenen Jahren hat er sich mit dem digitalen Medienwandel und den Folgen für die westlichen Demokratien beschäftigt. In diesem Zusammenhang steht auch ein Forschungsaufenthalt als ‚Journalist in Residence‘ am ‚Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin‘ (2020) und die Buchveröffentlichung ‚Rettet die Nachrichten – Was wir tun müssen, um besser informiert zu sein‘ (2021).